Die besondere Geschichte von Silvan Dillier in der „Hölle des Nordens“ beginnt schon einige Tage vor dem 8. April 2018. „Die Geschichte ist schon skurril, wenn man sie im Nachhinein betrachtet“, sagt der Schweizer. Von seinem damaligen Team AG2R La Mondiale für die Frühjahrsklassiker-Kampagne nominiert, nahm dieses Vorhaben erstmal ein jähes Ende bei Strade Bianche. „Ich habe mir dort bei einem Sturz den kleinen Finger gebrochen und war komplett raus aus dem Rennprogramm in Flandern“, erzählt Dillier. Auf dem Heimtrainer hielt er sich fit und sollte dann ein ganz anderes Rennprogramm mit drei Wettbewerben in Frankreich fahren.
„Vier Wochen nach dem Bruch habe ich gleich das erste Rennen, das ich gefahren bin – die Route Adélie –, gewonnen. Ich war frisch und konnte trotz des Fingerbruch gut zu Hause trainieren“, erzählt er.
Seine guten Leistungen dort schienen auch dem Team nicht verborgen geblieben zu sein, denn während Silvan Dillier das Etappenrennen Circuit de La Sarthe fuhr, bekam er plötzlich einen Anruf seines Teamchefs. „Ich war mitten in der Rundfahrt und es waren noch vier Tage bis Roubaix. Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, dort zu starten“, erzählt Dillier. Der Hintergrund: Dem Team fehlten nach der Flandern-Rundfahrt schlichtweg Fahrer, da sich einige verletzt hatten oder krank waren.
Foto rechts: Dillier stets ohne Handschuhe, auch auf dem Pflaster
So sehr sich Dillier auch über das „Angebot“ freute, so sehr zweifelte er doch, ob sein Finger den Belastungen durch die brutalen Schläge beim Fahren über das Kopfsteinpflaster standhalten würde. „Ich war ja gerade mal gut zehn Tage schmerzfrei und wollte nichts riskieren. Mein behandelnder Arzt meinte, sofern ich keine Schmerzen beim Fahren über die Paves verspüren würde, stände einem Einsatz nichts im Wege“, so Dillier.
Auf der Suche nach Test-Pflaster
Doch beim Circuit de la Sarthe verlief keine der Etappe über Kopfsteinpflaster. Was also tun? „Ich habe unter den Einheimischen herumgefragt, wo es denn in der Nähe Kopfsteinpflasterstraßen geben würde. Und nach einigem Hin und Her sind wir am Morgen der dritten Etappe, dann mit dem Auto und dem Fahrrad in ein Dorf gefahren, das uns empfohlen wurde“, so Dillier weiter. Hier fand der Schweizer, was er suchte. „Rund um die Kirche in der Altstadt gab es ein wirklich ‚schlechtes‘ Pflaster. Ich bin dann zwei Runden zügig drübergefahren – und mein Finger machte keinen Mucks“, sagt Dillier.
Test bestanden. Danach bestritt er noch die Etappe und meldete dann seinem Teamchef grünes Licht für seinen Einsatz in Roubaix. „Ich bin dann am Freitag mit dem TGV vom Circuit de la Sarthe nach Paris gefahren und war am Abend im Teamhotel“, sagt Dillier. Den Recon für Roubaix hatte er damit verpasst, so blieb ihm nur die lockere Kaffee-Runde mit seinem Teamkollegen am Samstag, um sich auf Roubaix einzustimmen.
Am Morgen vor dem Rennen gab es dann in der Teamsitzung die letzten Anweisungen für die Fahrer. „Oliver Naesen war unser Teamleader für dieses Rennen. Ich sollte die ersten 40 Kilometer einfach im Peloton mitfahren. Wenn dann noch keine Gruppe ging, sollte ich versuchen, mitzuspringen“, erklärt Dillier die taktische Vorgabe der Teamleitung. Ziel war es einen Mann vorne zu haben, wenn Oliver Naesen mit den anderen Top-Fahrern von hinten nach vorne kommen würde, um ihn dann zu unterstützen und bestenfalls mehrere taktische Optionen zu besitzen.
Der erste Teil des Plans ging auf. „Nach 40 Kilometer habe ich das Geschehen an der Spitze mitverfolgt und habe gesehen, dass schon zwei, drei Ausreißversuche fast geglückt waren. Dann bin ich auch ein, zwei Mal mitgesprungen“.
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Im roten Bereich und voller Adrenalin
Einer seiner Moves war erfolgreich. Er befand sich zusammen mit Sven Erik Bystrøm (UAE Team Emirates), Marc Soler (Movistar), Ludovic Robeet (WB Aqua Protect Veranclassic), Jimmy Duquennoy (WB Aqua Protect Veranclassic), Jelle Wallays (Lotto-Soudal), Geoffrey Soupe (Cofidis, Solutions Credits), Gatis Smukulis (Delko Marseille Provence KTM) und Jay Robert Thomson (Dimension Data) an der Spitze des Rennens.
„In die Fluchtgruppe zu springen, war der allerhärteste Moment im Rennen überhaupt. Ich war wirklich kurz davor abzuplatzen“, sagt Dillier. „Als am Anfang Marc Soler aufgedreht hat, musste ich schon ganz schön tief gehen und dachte schon, das war‘s“. Als sein Trainer später das File mit den Leistungsdate sah, schüttelte dieser nur den Kopf, ob der Intensitäten. „Ich war so lange im roten Bereich, das hat er gar nicht für möglich gehalten„, sagt Dillier.
„Ich kann über mich hinauswachsen, wenn ich sehe, dass ich heute am Drücker bin. Ich bin heute nicht der, der wie eine Fahne im Wind hinten im Peloton weht, sondern ich bin derjenige, der vorne aufs Gaspedal drücken kann. Dann kann ich Kräfte mobilisieren und bin voll von Adrenalin, dann geht was“, erklärt Dillier, woher die Energie für diesen Parforce-Ritt kam.
„Als ich es geschafft, und mich in der Fluchtgruppe positioniert hatte, war mir aber auch klar: Heute kann ich richtig weit kommen. Warum? Der Effort – also die Anstrengung – in die Gruppe zu kommen, ist riesengroß. Aber dann hast du ein bisschen Zeit, um dich zu erholen. In der Folge hast du den ganzen Stress mit dem Positionieren nicht“, sagt Dillier und führt weiter aus: „Das kann man sich im Endeffekt so vorstellen, als würde man den ganzen Tag im Sofa sitzen oder den ganzen Tag stehen, während man fernsieht. Irgendwann merkst du, dass es auf dem Sofa angenehmer ist. So ist es dann auch in der Spitzengruppe. Die Kopfsteinpflaster sind zwar dann immer noch dieselben, aber der ganze Stress, der vor diesen Passagen herrscht, den gibt es in einer Spitzengruppe eben nicht. Es wird auch definitiv homogener in einer Ausreißergruppe gefahren. Im Peloton bist du angespannter, wenn du nicht ganz vorne fährst. Weil du eben nur schwer nach vorne sehen kannst. Du weißt nie ganz genau, wann das nächste Schlagloch kommt.“
Im Flow über das Pflaster
Den berühmt-berüchtigten Sektor „Wald von Arenberg“ erreichte die Spitzengruppe mit rund zwei Minuten Vorsprung gegenüber dem Feld. In der Folge zerfiel die Gruppe, aber Dillier blieb weiterhin an der Spitze.
„Rund 60 Kilometer vor dem Ziel waren wir nur noch zu dritt“, erinnert sich Dillier. Hinten im mittlerweile schon verkleinerten Peloton begannen nun, die Top-Fahrer und Teamkapitäne zu attackieren. Peter Sagan gelang es, sich abzusetzen und zur Spitze vorzufahren. Er holte das Spitzen-Trio ein und machte gleich Tempo. Während die anderen zurückfielen, konnte Dillier sein Hinterrad halten. „Ich war schon den ganzen Tag über voll im Flow, machte automatisch Sachen richtig“, sagt Dillier. „Ich habe mir da gar nicht so viele Gedanken gemacht, sondern bin immer im Hier und Jetzt geblieben, und nicht darüber nachgedacht, was wäre, wenn. Sozusagen habe ich von Pavé zu Pavé gedacht – und gar nichts an negativen Gedanken verschwendet“, so der Schweizer.
Der Sportliche Leiter im Teamfahrzeug half ihm und sagte ihm immer genau Länge des Sektors und Länge des folgenden Asphaltabschnitts an. „Das hilft und motiviert schon enorm, denn Sagan war auf dem Pflaster schon der Schnellere“, so Dillier.
Der damalige Weltmeister aus dem Bora-hansgrohe-Team und Silvan Dillier arbeiteten gut zusammen, obwohl man ja hätte denken können, dass der Schweizer besser am Hinterrad hätte ‚lutschen‘ sollen, um Energie zu sparen.
Foto links: Für immer eine besondere Beziehung zu Paris-Roubaix (hier 2021 im Regen, als Helfer für Mathieu van der Poel am Ende 49.)
„Ich dachte mir, wir sind jetzt zu zweit, da hinten kommen noch fünf andere Superstars. Wir müssen einfach schauen, dass diese nicht zurückkommen und wir vorne bleiben. Damit habe ich mehr beschäftigt, als ob ich Sagan schlagen kann. Wenn ich dagegen gedacht hätte, ich fahre nur auf Sieg und führe deswegen keinen einzigen Meter, dann wäre ich vielleicht am Ende 15. geworden, wenn wir noch eingeholt worden wären. Und keiner hätte sich für mein Ergebnis interessiert“, erklärt Dillier seine Strategie.
Der Schmerz lenkt von der Müdigkeit ab
Die Radrennbahn in Roubaix kam immer näher und die beiden Führemden arbeiteten weiterhin gut zusammen. „So rund 20 Kilometer vor dem Ziel war meinem Team dann auch klar, dass ich heute derjenige bin, der hier die beste Platzierung herausholt“, sagt Dillier. Team-Leader Oliver Naesen war zu weit zurück und der Vorsprung des Spitzenduos lag immer noch bei über einer Minute. „Ich war immer noch im Flow. Meine Beine spürte ich nicht, hatte mich darauf konzentriert jede Flasche und jedes Gel von unseren Betreuern anzunehmen, die im Straßenrand standen„, so Dillier.
Einzig was ihn störte, waren die Blasen an seinen Handinnenflächen. „Ich fahre nie mit Handschuhen und hatte auch nie Probleme mit Blasen. Aber dadurch, dass ich die flandrischen Rennen über ausgefallen bin, konnte sich da wohl keine schützende Hautschicht bilden“, sagt Dillier. „Das Stechen war ein bisschen unangenehm, lenkte aber gut von der Müdigkeit ab„, so Dillier.
Die Einfahrt ins Velodrom – Dillier vor Sagan, der von seinem Vater lautstark angefeuert wird.
Der beste Tag in der Hölle des Nordens
Das letzte Pavé. Der Teufelslappen. Die Einfahrt ins Velodrom. „Meine Chancen waren realistisch betrachtet ziemlich klein. Jetzt kann man sich noch vorbeten und sagen, ich habe ja Bahn-Erfahrung. Aber ich kann sagen, nach 250 Kilometern von den 50 Kilometer Kopfsteinpflaster sind, ist ein Sprint auf dieser Bahn nicht mehr der gleiche wie in einem Scratch-Rennen“, erklärt Dillier. Abschenken wollte er trotzdem nicht. Aber in dem Moment, wo er antrat, setzte auch Sagan zum Sprint an. Der Slowake gewann. Dillier blieb Platz zwei.
„Der Sieg war greifbar nahe. Aber doch zu weit weg, wenn du gegen Sagan sprinten musst. Trotz allem bin ich mit diesem Rennen mehr als zufrieden. Ich habe das Rennen später ein paar Mal durchgespielt und kann keinen Fehler finden. Es war eine der besten, wenn nicht sogar die beste Leistung meiner Karriere. Meines Erachtens hatte ich den bislang besten Tag in der Hölle des Nordens“, so Dillier abschließend.
Auch in diesem Jahr wird Silvan Dillier für Alpecin-Fenix am Start von Paris-Roubaix stehen und seinen Kapitän Mathieu van der Poel unterstützen.