Team Bora-hansgrohe

Bora-hansgrohe hat den ersten Grand-Tour-Sieg der Teamgeschichte eingefahren. Ein großer Triumph, den viele für möglich, aber eher unwahrscheinlich hielten, zumindest was den Giro 2022 betrifft. Die Ansicht, dass Jai Hindley das Potenzial besitzt, in seiner Karriere eine Grand Tour zu gewinnen, teilten einige. Dass es so schnell passiert, hatten sicher wenige erwartet. Möglich, dass bei der Teamleitung auch eine Portion Genugtuung mitschwingt. Denn Ralph Denk und sein Stab wurden in den vergangenen Monaten viel kritisiert – für die Verpflichtungen, die Taktiken, die Kader-Nominierungen.

Kritik am Umbruch

Schon bei der Präsentation der Neuzugänge im vergangenen Herbst gab es Gegenwind. Ein Kollege einer Kölner Tageszeitung konfrontierte Ralph Denk bei der Präsentation des Kaders für 2022 mit der Frage nach dem „hastig zusammengestellten Kader“. Denk antwortete höflich, ohne Augenrollen. Insidern waren zumindest Teile der Top-Verpflichtungen schon vor dem Sommer bekannt. Auch Fachmedien sahen den eingeschlagenen Weg, sich zum GC-Team zu entwickeln, kritisch. Selbst bei Eurosport wurde zu Beginn der Saison ausgiebig ausgewertet, dass man zwar das Ziel GC-Team ausgegeben, aber keine Fahrer verpflichtet hat, die kurzfristig eine Grand Tour gewinnen können. Dabei hatte der Performance-Stab um Dan Lorang keineswegs den ersten Grand-Tour-Sieg schon für 2022 ausgegeben. Man hatte Fahrer geholt, die viel Potenzial besitzen und die man entwickeln wollte. Auch, weil schlicht keine aktuellen Grand-Tour-Sieger auf dem Markt waren. Egan Bernal, Tadej Pogacar, Primoz Roglic, …. alle gebunden. Man ging den Weg der Top-Talentförderung.

Kritik gab es auch am Umbruch in der Teamleitung. Enrico Poitschke, Steffen Radochla, Andre Schulze raus – allesamt altgediente Teile der Mannschaft. Vor allem Poitschke hatte das Team auf dem Weg vom kleinen Conti-Team in die WorldTour gestaltet und geprägt. Denk hat seine Verdienste nie in Frage gestellt und immer davon gesprochen, eher eine Chance im Umbruch zu sehen. Das Frühjahr lief bei den Etappenrennen gut, die Klassiker weniger gut. Der Gegenwind blieb.

Probleme und Kritik im Netz

Kritik zu üben ist vor allem auch Aufgabe der Medien, und wichtig! Angriffspunkte für Kritik gab es bei Bora-hansgrohe einige, beispielsweise die scherbenreiche Trennung von Pascal Ackermann und Ralph Denk. Auch hier beim CyclingMagazine haben wir das Thema umfänglich aufgearbeitet und beide Seiten kritisiert. In welcher Form, und wie heftig die Kritik ausfällt, ist sehr unterschiedlich. Dieser Giro d’Italia war ein sehr interessantes Beispiel. Schon als Bora-hansgrohe im Winter den Plan für den Giro vorstellte, wurde der Drei-Kapitäne-Plan kritisiert. Als Beispiel diente oft Movistar, die schon mit zwei Kapitänen nicht klar kamen. Bei Bora-hansgrohe wählte man bewusst drei Kapitäne, um drei Chancen zu haben. Am Ende des Giro kann man festhalten, dass der Plan auf ging, denn nach Rennhalbzeit waren zwei Kapitäne abgeschlagen.

Für den Auftritt auf dem Weg nach Turin noch gefeiert, wurde die Renntaktik einige Tage später wieder scharf kritisiert. Vor allem die Gestaltung der 19. Etappe, als man keinen Fahrer in die Gruppe schickte und stattdessen lange das Tempo machte, Kräfte investierte, aber am Ende keine Zeit gutmachte. Man habe für Ineos Grenadiers die Arbeit gemacht, die Chance auf den Tagessieg vergeben und die Teamwertung vernachlässigt. Vor allem im Netz gab es heftige Kritik der Fans.

Die ganze Debatte war nebenbei auch ein Plädoyer für journalistische Arbeit. Bei der es dazugehört, nachzufragen, verstehen zu wollen. Nicht einfach zu poltern. Das ist der Unterschied, zwischen Journalismus und „Inhalte verbreiten“. Beim Team nachzufragen, was es mit dem falsch eingestellten Ersatzrad von Wilco Kelderman auf sich hatte, statt einfach Dinge zu behaupten. Nachzufragen, was man mit der Taktik während der 19. Etappe bezweckte. Das bedeutet nicht, dass man nicht kritisch sein darf, oder nicht hinterfragen solle. Im Gegenteil. Aber eben verstehen, was passiert – Stichwort Recherche, beide Seiten hören.

Jeder darf Meinungen äußern und vertreten, auch Journalisten. Man muss nicht nur Beobachter sein. Ich stand nicht allein mit dem Gedanken, für die 19. Etappe lieber zwei Helfer in die Gruppe zu schicken und dann am einzigen steilen Berg eine Attacke mit Jai Hindley zu versuchen. Das Team tat es nicht, holte keine Zeit raus. Aber auch bei Bora-hansgrohe hatte man sich mit diesem Plan beschäftigt, dann aber umgestellt. Am Renntag selbst noch einmal die taktische Marschroute geändert. Für eine Meinung über das Verhalten von Menschen ist das Erkennen ihrer Absichten hilfreich. Man kann dennoch anderer Meinung sein, diese auch vertreten.

Um beim Beispiel 19. Etappe zu bleiben: Lennard Kämna, der in Cogne am Ende der Etappe noch um Rang 12 sprintete. Er sagte selbst, dass er das für sich, „sein Ego“ tat. Im Finale der 19. Etappe, wo das Team ursprünglich mit einer Attacke in die letzte Steigung für Hindley geliebäugelt hatte, konnte Kämna am Ende nicht helfen. Ihm fehlte die Kraft. Ben Zwiehoff schien an diesem Tag stärker, hatte zuvor im Giro aber jegliche eigene Ambitionen hinten angestellt und nach getaner Arbeit jedes Korn gespart. (An dieser Stelle könnte man locker 1000 Zeichen über die Unterschiede von Zwiehoff und Kämna anfügen, dabei auch auf die sensible Psyche Kämnas und die damit verbunden Besonderheiten eingehen – wird hier aber ausgespart). Man kann analytisch Kritik üben, die These vertreten, Kämna hätte vielleicht mehr helfen können. Aber auf der anderen Seite kann man argumentieren, dass Kämna sich mit dem Sprint gegen Carapaz genau dieses Selbstvertrauen holte, das er für seinen Auftritt am Passo Fedaia brauchte, als er Hindley einige hundert Meter unterstützte, als dieser Carapaz abhängen konnte und ins Rosa Trikot stürmte. Selten gibt es zu Argumenten keine Gegenargumente. Doch allzuoft werden diese in Debatten nicht berücksichtigt.

Lief alles glatt bei Bora-hansgrohe? Sicher nicht. Wird es weiter Punkte geben, die Medien und Fans kritisieren? Ganz sicher. Doch sie haben als Team mutig hohe Ziele ausgegeben und diese übertroffen. Sie haben eine Grand Tour gewonnen, mit einem Neuzugang. Haben sie taktisch alles richtig gemacht? Sie haben gewonnen. Wer gewinnt, hat weniger falsch gemacht, als der Rest, sagte mal ein Sportlicher Leiter nach einem Rennen.

Erfolg gibt Recht. Etwas Genugtuung beim Team um Ralph Denk wird es wohl geben, nach der vielen Kritik in den vergangenen Monaten. Vielleicht sind an anderer Stelle auch ein paar Gedanken über die Form der Kritik angebracht, die man übt. Und die Rolle der Medien, und auch der sozialen Medien.