„Bei der Tour herrscht sehr viel Stress. Die Nervosität im Feld ist wirklich exorbitant“ , sagt Degenkolb gegenüber CyclingMagazine. „Auch bei Paris-Roubaix ist es nervös, aber bei der Tour ist es eine andere Form von Nervosität im Feld. Beim Klassiker stehen andere Fahrer am Start, echte Spezialisten. Da kannst du dich schon ein Stück weit auf deinen Vordermann verlassen. Bei der Tour sind Fahrer dabei, denen das Pflaster überhaupt nicht liegt, die Angst haben, wenig Erfahrung mitbringen. Da denkt man bei einigen schon – bloß schnell an dem vorbei“, so Degenkolb.
Degenkolb hat Verständnis für die Fahrer, die mit großen Respekt in diese Etappe gehen, weil sie wenig Erfahrung mit dem Kopfsteinpflaster in der „Hölle des Nordens“ haben, in Sachen Körperbau für dieses Terrain nicht gemacht sind. „Man kann sich in Paris-Roubaix nicht reindenken, kann sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn man es nicht erlebt hat. Das ist wirklich krass. Das gilt natürlich auch ein Stück weit für die Pflaster-Abschnitte bei der Tour. Unser Kapitän Romain Bardet ist nach dem Recon der Tourstrecke noch den Wald von Arenberg gefahren, den wir bei der Tour ja nicht im Programm haben. Er kam zu mir und sagte, dass er keine Ahnung hat, wie wir das machen“, sagt Degenkolb und lacht. „Wenn du es nicht liebst, kommst du bei Paris-Roubaix auch nicht an.“
Bei der Tour-Etappe sind es etwas mehr als 19 Kilometer Kopfsteinpflaster. Es ist zwar kein Sektor der schlimmsten Kategorie dabei, aber für einige Fahrer wird es ein heftiger Ritt. „Bei der Tour sind es zwar nur elf Abschnitte, aber für die Bergfahrer ist das schon heftig. Sie wollen natürlich alle vorn fahren, um bloß nicht hinter einem Sturz aufgehalten zu werden. Das macht es vor den Pflasterabschnitten natürlich extrem hektisch und es wird auch mal eng. Die meisten Klassikerspezialisten sind das aus dem Frühjahr gewohnt, die GC-Fahrer vielleicht nicht so sehr“, so Degenkolb. Im Sommer ist das Pflaster nicht ganz so schlimm, wie im Frühjahr. „Wenn etwas Gras zwischen den Steinen gewachsen ist, fährt es sich etwas leichter. Allerdings wird es dann auch sehr rutschig, sollte es nass sein“, so Degenkolb.
Ein anderes Rennen
Das gemischte Starterfeld bei der Tour, wo eben auch Bergfahrer dabei sind, beeinflusst das Rennen enorm. „Wir haben bei der Tour eine ganze Reihe von Klassikerspezialisten, die sich um einen GC-Fahrer kümmern müssen. Das beeinflusst den Ablauf natürlich. Wenn mal eine Gruppe mit starken Klassikerfahrern steht, hat sie gute Chancen durchzukommen, weil man eine Lücke dann nur mit einer ganzen Mannschaft schließen kann. Das wird aber kaum ein Team machen, weil sie eben auch noch andere Interessen haben. So war es auch bei meinem Sieg“, erklärt Degenkolb, der im Jahr 2018 die Pflaster-Etappe der Tour gewann.
„Wir waren zu dritt vorn, weil Yves Lampaert so schnell über den Sektor Camphin-en-Pévèle gefahren ist, dass es einfach reißen musste. Dann waren wir uns vorn einig und haben durchgezogen. Weil es hinten dann nicht mehr um den Etappensieg ging, war man auch dort happy, weil es den Stress reduzierte. So kann es auch in diesem Jahr kommen. Denn selbst wenn ein Wout van Aert die Attacke verpasst, nicht mal er kann ein Loch dann noch allein schließen.“ Van Aert ist einer der Fahrer, die auf dem Pflaster zu den Top-Favoriten zählen. Allerdings hat er zwei der Top-Favoriten auf den Gesamtsieg in seiner Mannschaft, denen er vielleicht helfen muss. Ähnliches gilt für den aktuellen Roubaix-Champion Dylan Van Baarle.
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Helferdienste
Auch beim Team DSM gibt es mit Romain Bardet einen guten Kletterer, der Unterstützung gebrauchen kann. „Romain hat richtig Bock auf das Pflaster. Er hatte beim letzten Mal viel Pech, aber freut sich wirklich auf die Etappe und ist einer der Bergfahrer, die gut über das Pflaster kommen“, so Degenkolb. Gut möglich, dass Degenkolb auf eigene Rechnung fahren kann. „Das muss man abwarten“, sagt Degenkolb. „Wir wollen bei dieser Tour vor allem Tagessiege fahren, das betrifft auch diese Etappe. Wir haben mit mir und Nils (Eekhoff) zwei gute Fahrer für das Pflaster. Wir werden einen Plan machen und dann im Rennen schauen, wie es läuft“, so Degenkolb.
Das Problem mit der Energieversorgung
Ein großes Thema bei der Pflasteretappe der Tour ist die Verpflegung. „Es ist bei dieser Etappe eigentlich nur Verpflegung vom Straßenrand möglich. Aus dem Auto was holen und dann nach vorn fahren, wie bei einer normalen Etappe – das geht nicht. Da macht wirklich niemand auch nur 5cm Platz. Ich erinnere mich an die letzte Pflaster-Etappe. Da wollte ein Fahrer mit Flaschen von hinten nach vorn. Er rief ‚Service, Service‘, aber keiner machte Platz. Er bekam die Antwort: „Heute ist Kein-Service-Tag„. Man ist also gut beraten, sich schon am Start die Taschen vollzupacken“, sagt Degenkolb mit einem Lachen.
„Sein Pave“
Etwas Besonderes wird diese fünfte Etappe für Degenkolb ohnehin. Es geht über den zweiten Teil des Sektors, der seinen Namen trägt. Im Jahr 2020 wurde ein Abschnitt dem deutschen Roubaix-Sieger gewidmet. Dabei spielte neben seinem Sieg und dem Engagement für das Rennen auch die Rettung der Junioren-Auflage des Klassikers eine Rolle.
An Sektor 5 dieser Tour-Etappe („pavé de Erre à Wandignies-Hamage“) stehen die Stelen mit den Informationen zum „Secteur Degenkolb„. „Wird sind nun schon zwei Mal bei Paris-Roubaix vorbeigefahren und ich hatte jedes Mal Gänsehaut“, so Degenkolb. „Am Straßenrand werden Freunde und Familie stehen, auch die Leute vom Radclub Hornaing, denen ich diese Ehre zu verdanken habe. Mit der Tour de France dort lang zu fahren, ist wirklich ein Traum, und motiviert mich noch ein bisschen mehr, wirklich alles zu geben“, so Degenkolb.