Die Spanien-Rundfahrt beginnt am Samstag mit einem Mannschaftszeitfahren über 14,8 Kilometer. Worin liegt die Faszination am kollektiven aerodynamischen Teamwork?

Radprofi Silvan Dillier vom Team Alpecin-Deceuninck kennt die Besonderheiten des Teamzeitfahren. Der Schweizer ist zweifacher Weltmeister im Mannschaftszeitfahren, holte mit seinem damaligen Team BMC 2014 und 2015 den Titel. Dillier erklärt die Anatomie dieses Wettbewerbs, der heute nur noch selten im Rennkalender zu finden ist.


Silvan Dillier im Interview

Wie unterscheidet sich ein Mannschaftszeitfahrer von einem Einzelzeitfahrer?

Physiologisch sollte ein Athlet, der ein Mannschaftszeitfahren bestreitet, schon explosiver sein, als ein klassischer Einzelzeitfahrer. Der Grund liegt darin, dass man an der Spitze der Formation eben weit über der Schwelle fährt, was man beim Einzelzeitfahren ja nicht macht. Und dann ist es auch wichtig, dass man sich bestmöglich an den Hinterrädern der Teamkollegen wieder erholen kann, um dann wieder einen Effort weit über der Schwelle leisten zu können. Das ist definitiv etwas, was mir viel besser liegt, als 30 bis 40 Minuten an der Schwelle zu fahren. Deshalb habe ich auch die Mannschaftzeitfahren immer viel lieber bestritten als die Einzelzeitfahren.

Gibt es auch mental einen Unterschied?

Die meisten Fahrer verspüren bei einem Mannschaftszeitfahren mehr Druck als bei einem Einzelzeitfahren. Du trägst eine höhere Verantwortung, und willst ja nicht derjenige sein, der es verbockt, beziehungsweise das Team aufhält. Deswegen sind auch viele Fahrer vor solch einem Rennen extrem gestresst. Hinzu kommt auch noch ein wenig die Unsicherheit, denn es ist ja nicht gerade ein Wettbewerb, den Du alle zwei bis vier Wochen bestreitest, wie ein Einzelzeitfahren. Wenn man bedenkt, wie viele Mannschaftszeitfahren wir pro Saison überhaupt haben. Wenn überhaupt, dann ist es eins.

Woran liegt das, dass es nur noch selten solch einen Teamwettbewerb gibt?

Ich habe das Gefühl, dass bei dieser Disziplin ein wenig der Fokus verloren gegangen ist. Jetzt, da es keine Weltmeisterschaft mehr in dieser Disziplin stattfinden, gibt es auch immer weniger Wettbewerbe während der Saison bei einer großen Landes-Rundfahrt oder bei einem anderen Etappenrennen. Wenn wir dieses Rennen wieder bei Weltmeisterschaften integrieren würden, dann würde es auch in der Saison mehr von diesen Wettbewerben geben, da die Teams ja ihre Formation, beziehungsweise ihre Fahrer, in dieser Disziplin auch testen möchten.
Sie wollen das Material, das Line -up und die Strategie testen. Wenn es dann ein Etappenrennen mit einem Mannschaftszeitfahren gibt, dann kann man davon ausgehen, dass dort die Top-Fahrer am Start stehen werden. Eine bessere Möglichkeit, um es für eine Weltmeisterschaft auszuprobieren gibt es ja nicht.



Hat Dir Deine Erfahrung von der Bahn auch auf beim Teamzeitfahren auf der Straße geholfen?

Ja, definitiv. Das direkte Hintereinanderfahren mit nur wenigen Millimetern Abstand zwischen dem Hinterrad des Vordermannes und dem eigenen Vorderrad, das trainiert man ja Tausende von Runden auf der Bahn. Das kommt einem natürlich schon extrem zugute. Zudem trainierst Du auf der Bahn ja diese kurzen Ablösungen von 10 bis 20 Sekunden. Du fährst dann 500 bis 600 Watt an der Spitze. Das ist ein mehr oder weniger auch die Pace, die du versuchst beim Mannschaftzeitfahren zu halten.

Um es für den Laien verständlich zu machen: Nachdem der Fahrer an der Spitze abgelöst wurde und sich zurückfallen lässt, kann er sich erholen, bis er wieder an der Reihe ist?

Nur ganz ganz kurz (lacht). Die Zeit, in der du dich zurückfallen lässt, reicht nicht aus, um sich komplett zu erholen. Dein Team fährt ja Vollspeed weiter. Daher musst man weiter in die Pedale treten und kann höchstens mal ein oder zwei Pedalumdrehungen lockerlassen. Mehr nicht! Doch dann musst du einen zweiten Effort machen, um wieder an das Hinterrad des bis dahin letzten Mannes zu kommen. Wer vorher in der Führung all-out gefahren ist, hat dann eine richtig schwere Zeit, um an die letzte Position im Mannschaftszeitfahren zu kommen. Du kannst ja nicht wirklich mit Schwung da rein fahren in die Formation – so wie auf der Bahn, wenn Du von oben kommst. Du musst dann nach deinem Effort, den du in der Führung geleistet hast, noch mal einen kleinen Erfort machen, um wieder richtig in den Windschatten zu kommen. Und dort trittst du auch 250, eher 300 Watt. Also Erholung sieht für mich anders aus (lacht).


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Du bist selbst zwei Mal Weltmeister in dieser Disziplin mit deinem damaligen Team BMC geworden. Was war Eure siegreiche Taktik?

Wir sind im ersten Drittel des Rennens alle eine gleich lange Führung gefahren – so rund 15 Sekunden. Danach hat jeder so ein bisschen gespürt, wo er steht und wie viel Leistung er erbringen kann. Ob er sich gut fühlt oder ob er schon ein bisschen am Limit ist. Jeder Fahrer konnte dann für sich entscheiden, ob er in Folge längere oder kürzere Ablösungen fährt. Diejenigen, die sich etwas schlechter gefühlt haben, sind dann etwas kürzer gefahren. Gegen Ende des Rennens war es dann auch schon möglich, dass ein Fahrer auch mal eine ganze Minute lang vorn gefahren ist.

Entscheidend ist, dass die Geschwindigkeit hoch bleibt, egal wie viele Führungen dann gefahren werden…

Ja – in der Theorie ist das richtig. Das ist natürlich teilweise schwierig, weil die Strecke ja auch rauf und runter gehen. Es ist entscheidend, dass du immer den gleichen Rhythmus beibehalten kannst. Wenn du zu viele Beschleunigungen machen musst, weil das Tempo zwischendurch absackt beziehungsweise die Formation langsam wird, dann wird das Ganze unruhig und kostet auch unheimlich viel Energie. Wenn zu den Beschleunigungen, beziehungsweise Antritten, die Du eh schon bei der Ablösung fährst, viele weitere hinzukommen, dann kann dies das ganze Team kaputt machen.

Ein einzelner Fahrer kann also ein Team kaputt machen, wenn er unrhythmisch fährt?

Definitiv.

Wie habt ihr euch damals auf diese Wettkämpfe vorbereitet?

Wir haben bei BMC beispielsweise Positionstests mit den Fahrern gemacht, haben verschiedene Kombinationen in Abfolge mit den Fahrern getestet – also wer fährt hinter wem. Wir haben speziell darauf trainiert und versucht, diese Belastungen auch im Training zu trainieren. Teilweise haben wir sogar kleine Trainingslager dafür organisiert, um fünf Tage wirklich intensiv daran zu arbeiten und auch das Vertrauen zu bekommen, direkt hinter dem Team Kollegen zu fahren. Hinzu kommt, dass das Material natürlich top sein musste. Was auch gut funktioniert hat, war das Zusammenspiel mit der sportlichen Leitung. Da das Mannschaftszeitfahren eine spezielle Disziplin ist, die nicht so oft praktiziert wird, muss man die Fahrer richtig motivieren können, respektive du musst sie als sportlicher Leiter auch ruhig halten können. Damit sie einerseits nicht zu übermotiviert sind und andererseits am eigenen Druck zerbrechen.



Dein damaliger Sportlicher Leiter Fabio Baldato hat gegenüber Cycling Weekly gesagt: „Für mich ist das Mannschaftszeitfahren die beste Etappe, die man bei einem Rennen wie der Tour de France gewinnen kann, weil es zeigt, dass die ganze Arbeit des Teams – vom Sportdirektor, den Mitarbeitern und den Trainern – wirklich funktioniert hat. Sie teilen sich den Erfolg wirklich“. Siehst du das auch so?

Ja. Das Schöne aus Fahrersicht beim Mannschaftszeitfahren ist, dass jeder Fahrer des Teams am Ende eines solchen Rennen auf dem Podest steht, wenn die Equipe bei einer Weltmeisterschaft unter die besten drei gefahren ist. Ansonsten hast du das ja nicht. Du hast den Etappensieger, der auf dem Podest steht oder den Zweit- und Drittplatzierten bei einem Eintagesrennen, aber die Teamkollegen sieht man ja nie. Die schauen immer nur von unten zu. Das gibt es beim Mannschaftszeitfahren nicht. Da steht dann jeder Fahrer des Teams, auch wenn er abgehängt wurde, oben auf dem Podest.