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Vuelta 2022: 5 Erkenntnisse vor der Schlusswoche

Das Vuelta-Peloton startet am Dienstag in die Schlusswoche. Der Kampf um Rot scheint längst nicht entscheiden.

Angriffs-Modus: Primož Roglič hängt Remco Evenepoel an

1 Remco – eine Fahrt mit der Mental-Achterbahn

In die zweite Woche der Vuelta startete Remco Evenepoel famos. Er dominierte das Zeitfahren und baute seinen Vorsprung aus. Er wirkte extrem stark, sehr souverän. Doch dann stürzte er auf Etappe 12. Eine Unachtsamkeit, ein unnötiger Sturz. Er beendete die Etappe souverän, doch ein Sturz bleibt meist nicht folgenlos, auch wenn er glimpflich ausgeht. Meist zeigt sich. die Reaktion erst 1-2 Tage später im Rennen. Der Körper ist ohnehin am Limit, der Regeneration wird zwischen den Etappen alles untergeordnet. Schürfwunden sind eine Extra-Baustelle für den Körper am Limit. Evenepoel hatte sichtlich Schmerzen an den Händen. Der Belgier ist fast nie mit Handschuhen unterwegs. Am Tag nach dem Sturz trug er welche. Sie hätten ihn gestört, sagte er nach dem Rennen, ließ sie dann wieder weg. Zum anderen führt ein solcher Sturz unweigerlich vor Augen, wie schnell es gehen kann. So stark und überlegen man zu sein scheint – ein kleiner Fehler kann alles zu Nichte machen. Auch dies trägt zum großen Druck eines GC-Fahrers bei.

Welche Rolle Evenepoels Sturz für seine Schwäche auf der 14. Etappe gespielt hat, bleibt Spekulation. Er selbst sprach während der Pressekonferenz am Montag davon, dass er die Auswirkungen in der Muskulatur spürte, nicht richtig die Kraft auf die Pedale bekam. Für Evenepoel war das Finale der 14. Etappe ein echter Härtetest. Abgehängt, angeknockt. Doch er brach nicht zusammen. Er berappelte sich, kämpfte bis ins Ziel und büßte weniger als eine Minute ein. In der Niederlage war das ein Erfolg – mental sicher ebenfalls herausfordernd, denn er wusste, was ihn bei der Ankunft in der Sierra Nevada erwarten würde. Die Konkurrenz wollte seine Schwäche ausnutzen.

Doch die Königsetappe wurde für Evenepoel nicht zum Desaster. Im Gegenteil. Er wurde früh gefordert, musste lange das Tempo machen und verlor am Ende nur einige Sekunden. Er wusste nicht, wie sein Körper in der großen Höhe reagieren würde, sagte er am Montag. Er wollte es vermeiden über das Limit zu gehen, aus Angst, zu explodieren. Er explodierte nicht, verlor nur wenig Zeit. Das war vielleicht sogar ein bedeutungsvoller „Sieg“, denn er hatte nach der Schwäche am Samstag eine erneute Niederlage abgewendet.

Mental war diese zweite Woche für Evenepoel eine Achterbahnfahrt. Das Mega-Zeitfahren, dann der Sturz. Souverän in Peñas Blancas, der Einbruch in der Sierra de la Pandera. Doch er schließt die Woche mit einem positiven Erlebnis ab – dem guten Rennen auf der Königsetappe.

Evenepoel sagte nach der 15. Etappe, dass die Berge, die in der Schlusswoche kommen, nicht ganz so heftig sind. Damit liegt er richtig. Die ganz steilen Rampen kommen nicht mehr. Doch das Terrain der dritten Woche sollte kein Fahrer unterschätzen. Zwei Etappen mit rund 4000 Höhenmetern stehen noch an. Dazu gibt es Anstiege im Verlauf der Etappen, die eine frühe Attacke möglich machen. Evenepoel hatte am Sonntag sein Team perfekt nutzen können. Zwei Fahrer waren in der Gruppe des Tages und konnten im Finale helfen. Doch so leicht wird das in der letzten Woche vielleicht nicht klappen. Er lobt seine Teamkollegen, so wie es der Kapitän tun muss.

Evenepoel scheint seine Krise überstanden zu haben, doch bis zum Sieg ist es noch ein sehr langer Weg. Er hat ein kleines Polster auf Primož Roglič und Enric Mas. Doch wird Woche drei auch zur Achterbahnfahrt, kann es ganz eng werden.

2 Primož Roglič – in Lauerposition

Der Titelverteidiger scheint Evenepoels größter Konkurrent im Kampf um den Gesamtsieg zu sein. Nur rund eineinhalb Minuten zurück, geht Primož Roglič als Gesamtzweiter in die letzte Woche. Auf den letzten beiden Bergetappen vor dem Ruhetag hat Roglič jeweils Zeit gut gemacht. Die Tendenz stimmt. Doch vor allem bei der Ankunft in der Sierra Nevada hatte man mehr erhofft. Das gab auch Sportchef Grischa Niermann unumwunden zu. Evenepoel wirkte am Tag zuvor angeschlagen, man hatte gehofft, ihm wieder rund eine Minute abnehmen zu können. Doch das klappte nicht. Mental-Monster Roglič wird sich davon aber nicht beirren lassen.

Für Roglič geht es bei dieser Vuelta nur um den Sieg. Ob er Zweiter, oder Zehnter wird, spielt weniger eine Rolle. Er hat ein starkes Team, das muss er in der Schlusswoche nutzen. Mann gegen Mann ist Evenepoel nicht leicht zu schlagen. Doch Evenepoels Team ist nicht extrem stark. Dass Enric Mas in der Gesamtwertung näher gerückt ist, könnte auch Roglič helfen. Denn der Mann in Rot kann sich nicht nur auf Roglič konzentrieren, muss auch Mas nachsetzen. So wie am Sonntag, als Evenepoel lange das Tempo machen musste, um Mas zu folgen, während Roglič am Hinterrad blieb und dann auf den letzten Metern Zeit gutmachte.

Roglič muss in der Schlusswoche sein Team nutzen, um anzugreifen. Seine exzellente Sportliche Leitung wird einen Plan ausarbeiten, um Evenepoel anzugreifen. Doch am Ende muss Roglič den Belgier abhängen, sonst wird er diese Vuelta nicht gewinnen können. Eines scheint sicher: Der Sieger dieser Vuelta steht erst im Ziel der 20. Etappe fest. Bis dahin wird es einen harten Kampf geben.

3 Thymen Arensman – ein außergewöhnliches Talent

Er ist eine der ganz großen Entdeckungen der Saison. Der 22-jährige Niederländer Thymen Arensman hat den Sprung in die Weltspitze in diesem Jahr geschafft. Schon im vergangenen Jahr fuhr er stark, was er jedoch in dieser Saison zeigt, ist wirklich beeindruckend. Seit dem Frühjahr fährt er stark, bekam von seinem Team offenbar ein gutes und abgestimmtes Programm. Der Kerl ist 22 und fährt seine vierte (!) Grand Tour. Es muss ein besonderes Holz sein, aus dem er geschnitzt ist. Denn er bringt eine Konstanz in seinen Leistungen mit, die beeindruckt.

Beim Giro klappte es trotz starken Auftritts noch nicht zum Sieg. Dann gewann er das Zeitfahren bei der Polen-Rundfahrt und legte nun bei der Vuelta mit seinem zweiten Profi-Sieg nach. Und dies in einer Art, die bei vielen Experten mindestens ein anerkennendes Nicken provoziert. Um Thymen Arensman gibt es bei den Fans bislang keinen Hype, seine Qualitäten sind in der Szene aber schon länger aufgefallen. Das Team Ineos hat seine Fühler ausgestreckt. Für DSM wäre der Abgang ein herber Verlust. Noch ist der Wechsel nicht offiziell bestätigt, doch die Trennung scheint sicher. Dem niederländischen Team hätte ein niederländischer GC-Fahrer mit viel Potenzial in den eigenen Reihen sicher gut gefallen. Bei der Vuelta bekommt er die volle Unterstützung, mit dem Etappensieg hat er dem Team etwas sehr wichtiges zurückgegeben.

4 Enric Mas – Punkte vs Risiko?

Enric Mas fährt eine herausragende Vuelta. Auf Position drei geht er in die Schlusswoche, liegt nur zwei Minuten hinter dem Roten Trikot. Zwei Mal schon stand er auf dem Vuelta-Podium, so nah am Sieg war er aber noch nie. Doch will er tatsächlich das Rote Trikot angreifen, wird er Risiko nehmen müssen. Warten auf den letzten Berg und dann wegfahren – so wird er Evenepoel und Roglič wohl nicht bezwingen können. Er müsste früh angreifen, ins Risiko gehen. Eine wilde Aktion, ein Angriff weit vor dem Ziel. Doch wird man das bei Movistar als Plan ausgeben? Vielleicht eher nicht. Denn Gesamtrang drei bei der Vuelta bringt 575 UCI-Punkte. Für Rang sechs sind es knapp mehr als die Hälfte. Das spanische Traditionsteam ist in den Abstiegs-Strudel geraten. Weil man traditionell Radsport betrieb, nicht bei kleineren Eintagesrennen auf Punktejagd ging. Nun könnte man sich mit Gesamtrang drei in der Endabrechnung der Vuelta aus dem Keller lösen. Würde bei anstehenden Herbstklassikern nicht unter enormem Druck stehen.

Enric Mas wird keine Chance liegen lassen, die beiden Jungs vor ihm in der Gesamtwertung abzuhängen. Doch er wird wohl eher keine wilde Aktion bringen, um mit einer kleinen Chance auf den Gesamtsieg das Podium zu riskieren. Weder beim Giro, noch bei der Tour de France gelang ein Top10-Endergebnis. Die Vuelta hat zudem als Heimrundfahrt noch eine besondere Bedeutung.

5 Moderner Radsport – wenn die alte Relaisstation perfekt funktioniert

Bei dieser Vuelta gibt es einige spannende Dinge zu beobachten und zu entdecken. Sprinter Kaden Groves, der den Durchbruch schafft. Pascal Ackermann, der beim UAE-Team viel auf sich allein gestellt ist und dennoch knapp am Sieg vorbei schrammte. Mads Pedersen und dessen konsequenter Kampf um das Grüne Trikot. Talent Thymen Arensman, Remco beim ersten echten GC-Versuch bei einer Grand Tour, Zwift-Maschine Jay Vine im Bergtrikot, Marco Brenner mit Achtungserfolg. Der Kampf um UCI-Punkte. Juan Ayuso, der Joao Almeida als Kapitän bei UAE verdrängt hat, oder auch das Verhalten des Teams Ineos Grenadiers, das Richard Carapaz bei seiner letzten Grand Tour für das Team Freiheiten gewährt, aber auch Talent Carlos Rodríguez vollen Support beschert.

Diese Vuelta ist voll spannender Geschichten, von denen einige den Radsport der heutigen Zeit charakterisieren. Viele junge Fahrer, die schnell in die Kapitänsrolle bei großen Teams wachsen – auch das ist eine der Dimensionen des „modernen Radsports“. Was man ganz selten sieht, sind taktische Fehler der Teams. In Zeiten von Veloviewer & Co lässt sich eine Etappe sicher einfacher vorbereiten, als in den Zeiten, wo es kein Internet gab. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der Radport auf Top-Niveau scheint immer noch professioneller zu werden. Ernährungsstrategien, Recovery-Protokolle, Pacing via Wattmesser – die Zeit der Bauchgefühl-Attacken scheint vorbei, im Regen wischt Remco alle paar Sekunden die Tropfen vom Radcomputer.

Für Nostalgiker keine leichte Zeit, da kommt es sehr gelegen, dass die gute alte Relaisstation auf der Königsetappe gleich von mehreren Teams perfekt zelebriert wurde. Der lange, im oberen Teil nicht supersteile Anstieg zum Ziel bot sich natürlich für das taktische Mittel eines vorausgeschickten Fahrers an. Ineos, Astana, QuickStep … eine ganze Reihe von Teams hatte einen Fahrer voraus, der dem Kapitän im Finale als Relaisstation dienen konnte. Es fiel auf, dass bei nahezu allen Teams die Taktik exzellent funktionierte. Einzig bei Jumbo-Visma wurden die Helfer etwas zu früh eingeholt, um tatsächlich Roglič helfen zu können.

Für die Schlusswoche darf man wohl mit weiteren Relaisstationen rechnen, zumindest bei den beiden schweren Bergetappen. Denn will man Evenepoel in Bedrängnis bringen, darf man wohl nicht bis zum letzten Anstieg warten. Der Radsport vergangener Tage war sicher unberechenbarer und wilder, doch auch moderner Radsport kann großen Unterhaltungswert haben – das haben auch Giro d’Italia und Tour de France bewiesen. Die Schlusswoche dieser Vuelta bietet das Terrain für packende Etappen – für den Samstag erwartet Evenepoel „den letzten großen Kampf“. Zu hoffen bleibt, dass Taktik und Beine über den Ausgang des Rennens entscheiden, nicht ein positiver Covid-Test. Das hätten Fahrer, und auch Organisation nicht verdient.

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