Max Walscheid

Statt bei der WM in Wollongong für das deutsche Team auf Medaillenjagd zu gehen, kämpfte Max Walscheid bei französischen 1.1. Rennen um Punkte. Sein Team Cofidis war im Kampf um die WorldTour-Lizenz in die Saison 2022 mit reichlich Punkte-Rückstand auf den rettenden 18. Platz im WorldRanking gegangen – doch nun ist man kurz vor Saisonende in einer guten Position und will unbedingt weiter zur ersten Radsport-Liga gehören. „Wir stehen ganz gut da, wollen aber weiter punkten, um sicher zu gehen“, sagt Walscheid.

Bei der Verpflichtung Walscheids hatte das französische Cofidis-Team die Jagd nach Punkten schon im Hinterkopf. Der endschnelle Deutsche sollte vor allem bei den Eintagesrennen reichlich Beute machen, was direkt zu Beginn der Saison bestens gelang. Doch so gut der Saisonstart für Walscheid war, so abrupt endete seine Klassikerkampagne.

„Das war das beste Frühjahr meiner Karriere, ich war in einer exzellenten Verfassung“, sagt Walscheid rückblickend. Dann wurde er im Training von einem Auto gerammt – der schwere Unfall beendete sein Frühjahr. „Wäre das nicht ein Kombi, sondern G-Klasse oder ein Transporter gewesen …“, sagt Walscheid ruhig und macht dann eine Pause. „Klar, die Situation war enormes Unglück, aber mehr Schutzengel kann man nicht haben“, spricht er weiter. Er sei froh, dass er überlebt habe.

Nach Rang zwei bei Nokere Koerse, dem Sieg bei Grand Prix de Denain und Rang vier bei Brügge-De Panne, war er voller Vorfreude auf die großen Frühjahrsklassiker. Doch das Thema hatte sich abrupt erledigt. Unmittelbar nach dem Unfall ging der Blick direkt wieder nach vorn. Er habe seinen Teamchef angerufen, ihm mitgeteilt, dass er einen Unfall hatte, die Tour aber nicht in Gefahr sei. „Ich habe Cédric (Vasseur / Team-Manager) angerufen und ihm gesagt, dass er mir ein paar Tage geben solle, dann kann ich sagen, wie schnell ich zurück bin. Ich habe ihm aber auch gesagt, dass sich an meiner Vorbereitung auf die Tour nichts ändert“, erzählt Walscheid. „Sobald ich zurück im Training war, habe ich mir richtig in den Arsch getreten“, so der 29-Jährige.

Max Walscheid – Sieg beim Grand Prix de Denain 2022

Veränderungsprozess als Sportler

Max Walscheid ist sehr ehrgeizig. Er weiß was er will, verfolgt seine Ziele konsequent. Das betrifft nicht nur den Sport. Walscheid hat Medizin studiert, hatte das erste Staatsexamen schon in der Tasche, als er 2016 in der World Tour beim Team Sunweb startete. Er hatte nicht den klassischen Weg eines Radsportlers bestritten, kam mit Defiziten zum Team von Iwan Spekenbrink. Aber eben auch mit starkem Willen und viel Potenzial. „Ich bin Sunweb sehr dankbar, dass sie mich behutsam aufgebaut haben, denn so konnte ich während meiner Karriere Dinge aufholen, die in der U23-Zeit vielleicht schon hätten dasein sollen“, sagt Walscheid.

In der heutigen Zeit wäre das kaum noch so möglich. „Wenn die Fahrer heute aus der U23 kommen, werden sie nicht mehr geschont. Das hat sich verändert“, sagt Walscheid. Hinter ihm liegt ein Veränderungsprozess als Sportler, der sich auf mehreren Eben abgespielt hat. Der 1,99 m Hüne ist von einem Sprinter für flaches Terrain zu einem endschnellen Klassiker-Fahrer geworden.

„Die Veränderung kommt vor allem daher, dass ich ingesamt besser geworden bin. Ich habe ein ganz anderes Grundniveau, als in den ersten Jahren bei Sunweb. Damals hatte ich einfach nicht die Möglichkeiten, bei mittelschweren Rennen mithalten zu können. Klar, fast zwei Meter Größe und ein stattliches Körpergewicht sind bergauf nicht ideal, werden es auch nie sein, aber ich habe viel mehr Ausdauer, Kraftausdauer und insgesamt einen Schritt gemacht, der mir Dinge außerhalb der flachen Sprints ermöglicht“ , sagt Walscheid.

Seine Peakpower war als Neo-Profi beeindruckend – mehr als 2100 Watt konnte er treten. Doch selbst kleinere Anstiege bereiteten ihm zunächst Schwierigkeiten. Das hat sich geändert. „Meine Peakpower aus der Ruhe war damals sicher am größten, aber die Leistung, die ich nun am Ende eines harten Rennens abliefern kann, ist auf einem ganz anderen Niveau„.

Viel Power – Fernando Gaviria (links), Walscheid rechts 2018 im Sunweb-Trikot

Erarbeitete Souveränität

In nahezu allen Bereichen hat sich Walscheid nach und nach verbessert. „Als Neo-Profi war mir klar, dass viel zu verändern ist, um bei den ganz großen Rennen wirklich mitfahren zu können.“ Die Entwicklung vollzog sich nach und nach. Ein Rennen, das auf diesem Weg von großer Bedeutung war, war die Vuelta 2018. Seine erste Grand Tour – ausgerechnet die bergige Spanien-Rundfahrt. „Ich bin von der BinckBank-Tour zur Vuelta gereist, als Ersatzfahrer nachgerückt. Hab mir direkt die Profile genauer angeschaut und wusste, was da auf mich zukommt. Ich erinnere mich an das Telefonat mit Marc Reef (damals Sportl. Leiter bei Sunweb). Ich sagte: Marc, es kann sein, dass ich in ein paar Tagen schon wieder im Flugzeug nach Hause sitze. Marc sagte nur: Das schaffst du schon“. Walscheid hat gelitten, bei dieser Vuelta. Er musste sich durchbeißen, über die Grenzen gehen. „Ich habe sehr schnell nachgeholt, was mir noch gefehlt hat“ , sagt er rückblickend. Eine leichte Zeit war das nicht.

Schon bei der Vuelta im nächsten Jahr lief es viel besser. „Da bin ich schon ein ganzes Stück einfacher nach Madrid gekommen“, sagt Walscheid. Fünf Jahre bei Sunweb, dann 2020 der Wechsel zum Team NTT. Neben der körperlichen Entwicklung kam eine gewisse Souveränität hinzu und 2020 folgte der erste Start bei der Tour de France. „Es ist dann schon so, dass man bei der Tour de France auf dem Champs Élysées seine Profilizenz ausgehändigt bekommt“ , sagt Walscheid mit einem Lachen.

Durchgebissen – Walscheid bei einer der vielen Bergankünften der Vuelta rechtzeitig im Ziel

Er hat sich spätestens mit dem Tourstart endgültig bei den Profis etabliert. „Ingesamt habe ich meinen Platz gefunden. Ich weiß, was ich kann, aber eben auch, was ich nicht kann – mit der Balance bin ich zufrieden. Ich würde natürlich gern mehr gewinnen, aber ich bin stolz darauf, dass ich in jedem Jahr ein Rennen gewonnen habe.“ Als Mensch und Sportler hat er sich verändert, in den sieben Profijahren. Die Erfahrung hat ihn gelassener werden lassen.

„Als man bei Sunweb damals beim Scheldeprijs für mich gefahren ist, ich gute Beine hatte, aber nur Sechster geworden bin, habe ich mich stundenlang gestresst, warum ich nicht besser war. Heute kann ich sehen, aus welchen Gründen es eben dieses Resultat geworden ist und dann abhaken. Ich stresse mich nicht mehr so wie früher„, so Walscheid.

Auch auf dem Rad hat sich sein Verhalten verändert. Zu Beginn seiner Karriere eher mit der Tendenz zum Heißsporn, agiert er nun viel überlegter. „In Sachen Bikehandling hat sich wenig verändert, aber ich kann nun viel besser einschätzen, wo es sich lohnt ein gewisses Risiko zu nehmen, und wo es sich nicht lohnt. Es gibt in vielen Rennen eine Situation, wo man über die Aktion eines Kollegen den Kopf schüttelt. Ich möchte mich da nicht ausnehmen, auch ich fahre mal in Lücken rein, wo man eigentlich wissen sollte, dass da keine Lücke aufgehen wird, aber insgesamt betrachtet habe ich da eine Entwicklung vollzogen und profitiere von der Erfahrung.“ Die Erfolge der Vergangenheit haben ihm Sicherheit und Selbstvertrauen gegeben, aber auch den Druck genommen. „Als Beispiel kann ich den Grand Prix d’Isbergues nehmen. Das Finale war hektisch, es war für mich keine Lücke da. Dann muss ich auch nicht reinhalten und unnötig Risiko gehen. Hinterher gräme ich mich dann aber auch nicht für Platz sieben.“

Wichtiger Erfolg: Walscheids Sieg beim Münsterland Giro 2018 vor

„dreckig & abgehängt“ – Cross statt quälen = Spaß + Zweck

Dass Max Walscheid zu Beginn der Saison 2022 extrem stark war, lag auch an der guten Vorbereitung. Er war im Winter fleißig, auch im Gelände. „Als ich zu Cofidis kam, haben wir mein Wintertraining analysiert. Es war zu sehen, dass ich viel unintensiv trainiert habe“, erzählt Walscheid. „Ich kann zwar in den Rennen weit über mich hinaus wachsen und mich extrem belasten, vielleicht sogar mehr als viele meiner Kollegen, aber in Sachen Intervalltraining bin ich sicher kein Trainingsweltmeister„.

Er fand über einen Freund zum Cross und daran direkt Gefallen. „So fällt das Training viel leichter, Spaß und Zweck kommen zusammen„, sagt Walscheid. Er startete bei einigen Rennen und ist begeistert. „Ich habe wirklich großen Respekt vor der Cross-Branche. Da gehört einfach so viel dazu. Man kann da nicht rangehen und denken, ich bin hier der tolle Tour-de-France-Fahrer, der hier alle rasiert. Ganz und gar nicht. Sondern ich werde hier dreckig und abgehängt„, spricht Walscheid voller Anerkennung. Dass bei Walscheids Crosstraining im Winter das Feilen am Bikehandling die treibende Kraft war, ist nicht der Fall. „Damit hatte das wenig zu tun. Ich bin über einen Freund bei den Rennen gelandet und war einfach direkt begeistert“. „Fahrer wie Heinrich Haussler sind Vorbilder. Es ist einfach toll zu sehen, mit welch Begeisterung Heino (Haussler) da am Start ist. Solch ein gestandener Top-Profi, der großen Spaß dabei hat, auch wenn ihm die Top-Crosser da um die Ohren fahren – Respekt“, sagt Walscheid.

Paniert – Max Walscheid beim epischen Paris-Roubaix 2021

Demut und PerspektivePflaster, Enttäuschung und der Traum von Gelb

Mit Haussler und den allerbesten Crossern der Welt misst sich Walscheid bei den Pflasterrennen im Frühjahr. Vor allem Paris-Roubaix liegt dem kräftigen Sprinter. Rang 12 im Herbst 2021 in der „Hölle des Nordens“ hat ihm gezeigt, dass er bei diesem Radsport-Monument ganz weit vorn landen kann. Nach dem Unfall im Frühjahr musste er in diesem Jahr darauf verzichten. Er kämpfte sich zurück und startete tatsächlich im Sommer bei der Tour de France. Doch das Jahr 2022 blieb eine Achterbahnfahrt – nach einem positiven Coronatest musste er das Rennen vorzeitig verlassen.

Dieses verrückte Jahr 2022 hat Walscheid verändert. Seine Erkenntnisse? Demut und Relativierung. „Es hat sich in diesem Jahr schon einiges verändert“ , sagt Walscheid. Auch sein Blick auf den Radsport. „Ich kann Wout van Aert oder Mathieu van der Poel als Fan bewundern, aber sie sind auch nur Menschen, die etwas viel besser können, als andere“ , sagt Walscheid ruhig.

Ich habe sehr großen Respekt vor der Arbeit, die sie leisten. Sie haben ein besonderes Talent in die Wiege gelegt bekommen, so wie jeder Profi. Die Arbeit und der Weg, den sie bestreiten, sind die Dinge, über die man sich definieren sollte. Der Erfolg ist ganz schnell wieder weg“, so Walscheid und führt seine Saison als Beispiel an. „Ich hatte die beste Woche meiner Karriere, habe im Training vom Gelben Trikot bei der Tour de France geträumt. Ich bin meine Trainingsrunde gefahren und habe mir wirklich Gedanken darum gemacht, dass ich bei der Tour, wenn alles perfekt wäre, beim Zeitfahren und dann bei Pflaster-Etappe, nach der fünften Etappe das Trikot holen könnte, wenn ich in der richtigen Gruppe wäre. Zwei Minuten später wurde ich fast totgefahren„, sagt Walscheid.

Im Krankenhaus keimte der Verdacht auf, dass Walscheid neben den Sturzverletzungen eine weitere Lungenkrankheit habe, die seine Karriere länger auf Eis legen würde. Die Diagnose schien sich zunächst zu bestätigen. „Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen„, sagt Walscheid. Eben noch der Traum von Gelb, im nächsten Moment stand das Sportler-Leben in Frage. „Was macht man dann mit sich selbst? Wohin soll mein Leben gehen? Solche Fragen habe ich mir dann natürlich gemacht. Der Gedanke daran, aufzuhören war ganz klar da„, sagt Walscheid ruhig. Es stellte sich dann heraus, dass sich der schlimme Verdacht nicht bestätigte und er neben den Sturzverletzungen keine Beeinträchtigung hatte. Doch diese schweren Tage in der Schwebe haben ihn verändert, noch einmal demütiger werden lassen.

„Radsport ist ein harter Sport, aber man muss sich nichts drauf einbilden“, sagt Walscheid. Im Jahr 2016 raste ein Auto in die Trainingsgruppe von Giant-Alpecin, auch Walscheid erwischte es schwer. Er brach sich Hand und Schienbein. „Wenn ich ein Kind hätte, würde ich wollen, dass es Radsport betreibt, so wie ich? Klar, living the dream und so, aber der Preis ist schon recht hoch“, sagt Walscheid so, als könne er sich die Frage selbst nicht beantworten.

Es ist Max Walscheid anzumerken, mit welch Ehrgeiz und Leidenschaft er den Radsport lebt. Er drückt sich nicht um unbequeme Fragen und gibt klare Antworten. Wenn er analytisch und reflektiert über seine Erlebnisse spricht, scheint es so, als sei ihm vor allem durch die Rückschläge bewusster geworden, welch bedeutende Rolle der Radsport für sein Leben hat.