Marco Brenner an der Seite von Kapitän Thymen Arensman

Zehn Siege gelangen dem Team DSM im Jahr 2022 – das ist zum Vorjahr eine Verbesserung. Bei Giro und Vuelta holte man Etappensiege, insgesamt stehen fünf Erfolge auf WorldTour-Level zu buche. Bei den Grand Tours landete man in der Gesamtwertung auf Rang 11 beim Giro, Rang sechs bei der Tour de France und Rang sechs bei der Vuelta. Ordentliche Resultate. Doch insgesamt betrachtet bot das Jahr 2022 erneut wenig Grund zur Euphorie. Eher im Gegenteil.

In der „CM-Saisonbilanz 2021 für das Team DSM“ stand: „Nach der schwachen Saison kann es eigentlich nur besser werden, mag man meinen. Es braucht einen neuen Spirit im Team, der die gesamte Mannschaft antreibt, nicht nur einzelne Grüppchen. Die Verbindung zwischen Teamleitung, Sportlichem Management und Fahrern muss neu aufgebaut werden – eine Einheit geschaffen werden. Gelingt dies, wird man ganz sicher wieder in die Erfolgsspur finden, denn Talent gibt es im Team reichlich.“ Rund zwölf Monate später kann man festhalten, dass dies nicht gelungen ist. Im Gegenteil, der Negativtrend setzt sich fort, das Team steckt scheinbar noch mehr in Problemen.

Erneut verlassen einige Leistungsträger frustriert das Team, dazu haben Trainer und Coaches gekündigt. Einige von ihnen scheinen zu resignieren, vor den anhaltenden strukturellen Problemen im straff geführten Team. Das einstige Klima, das man bei Argos-Shimano geschaffen hatte, scheint verflogen. Einige Zeit konnte man mit Teamspirit und Konsequenz Erfolge weit über dem eigentlichen Qualitätslimit des Teams einfahren – unterdessen scheint das aktuelle Team DSM ähnlich weit von der einstigen Monumente- & GranTour-Erfolgsmannschaft „Giant-Alpecin“ entfernt, als man es am Anfang als kleine „Skil-Shimano“-Truppe war. Eine bittere Entwicklung.

Die nächsten Beispiele misslungener Personalpolitik

Im vergangenen Jahr führten wir das Beispiel Michael Storer an, der sichtbar machte, wo große Probleme im Team stecken. Den eigenwilligen Australier mit viel körperlichem Potenzial hatte man früh ins Team geholt, im Keep Challenging Center eine super Infrastruktur geboten und an die Weltspitze geführt. Dann verließ er das Team. Genau wie Tom Dumoulin, Warren Barguil, Marc Hirschi, Marcel Kittel und andere Fahrer. Am Ende diesen Jahres verliert man Thymen Arensman – eines der ganz großen Rundfahrt-Talente. Die Gründe mögen individuell sein, doch das Muster besteht seit Jahren – immer wieder verlassen große Talente das Team von Iwan Spekenbrink, nachdem sie den Durchbruch schafften.

Schon 2020 hatten wir uns diesem Thema angenommen – System Sunweb – Beziehung mit Ablaufdatum? – beleuchtet, dass immer wieder Fahrer das streng strukturierte System als zu eng geschnürtes Korsett empfinden. Lange Zeit gelang es, die Abgänge zu kompensieren und weiter erfolgreich zu sein. Doch diese Zeit scheint nun vorbei, wie zwei katastrophale Jahre belegen. Im letzten Jahr Schlusslicht in der World Tour, in diesem Jahr sammelte nur das arg gebeutelte Astana-Team weniger UCI-Punkte. Ein Aufschwung ist nicht zu erkennen.

Dass die Abwanderung aus dem Team nun auch einige der langjährigen Mitarbeiter betrifft, die wichtige Stützen waren – wie beispielsweise Trainer Sebastian Deckert, der über Jahre die jungen Talente betreute und zuletzt einige Top-Fahrer trainierte – könnte für das Team ein erhebliches Problem bedeuten. Denn wie soll Stabilität entstehen, wenn selbst die treuesten Kräfte gehen? Dazu beschert die Teampolitik der Mannschaft immer wieder Kritik und Häme von Fans, Medien und Fahrern – wie will man künftig Top-Talente und gestandene Profis ins Team locken, wenn überwiegend negative Sachen über die Mannschaft durch das Peloton wabern?

Was nun?

Für einen Abgesang auf das Team DSM ist es zu früh. Iwan Spekenbrink ist ein sehr kluger und eloquenter Mann. Er hat das Team damals in die Spitze geführt, schwierige Momente überstanden und es gerettet, als während der Pandemie der Hauptsponsor ersetzt werden musste. Doch für die Aufgabe, die er nun zu meistern hat, braucht es mehr als seinen Fleiß, seine Eloquenz, seinen Mut und seine klugen Ideen. Es muss eine neue Verbindung im Team geschaffen werden, vielleicht sogar eine neue Identität. Das dürfte eine brutal schwere Aufgabe sein, wenn nun selbst langjährige Identitätsfiguren wie Nikias Arndt (seit 2013 im Team) und Søren Kragh Andersen (seit 2016 im Team) gehen.

Der 33-jährige John Degenkolb ist nun der älteste Fahrer im Team und ein wenig die Erinnerung an die guten alten Zeiten, als man Monumente gewann. Degenkolb kümmert sich um die jungen Fahrer, führt die großen Talente – wie beispielsweise Marco Brenner bei der Vuelta – doch auch er kann seine Fähigkeiten als Teamleader nur einbringen, wenn das Gefüge in der Mannschaft stimmt. Diese braucht es, will man zurück in die Erfolgsspur finden.

Sportliches talent steckt weiter im Team – Romain Bardet, Nils Eekhoff, Andreas Leknessund, Sam Welsford, dazu die Talente Marco Brenner, Henri Vandenabeele, Kevin Vermaerke, Casper van Uden,Pavel Bittner, Matthew Dinham … Doch nach zwei üblen Jahren, vielen Turbulenzen und mit einer schwierigen Stimmung im Team wird man ganz sicher Druck verspüren. Die Kapitäne müssen liefern, die jungen Talente nun die herben qualitativen Verluste ausgleichen. Noch eine katastrophale Saison wird sich das Team wohl nicht leisten können – dabei geht es 2023 vielleicht gar nicht vorrangig um Rennergebnisse, sondern darum, wieder eine Team-Struktur zu schaffen, mit der man langfristig erfolgreich sein kann. Man darf gespannt sein, was das Jahr 2023 für DSM bringt – in Zeiten von finanzkräftigen Gönner-Teams werden sich sicher viele Fans wünschen, dass es wieder aufwärts geht.


Die Saisonbilanzen der anderen Mannschaften sind hier gesammelt.