Kontrolle – Team Jumbo-Visma

Gut, wer einen Wout van Aert in seinen Reihen hat. Denn gerade jetzt im Winter, wo spekuliert wird, wer eigentlich bei welcher Grand Tour als Leader antritt, zieht der Belgier dank seiner Cyclocross-Fähigkeiten die Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich. So herrscht zumindest ein wenig Ruhe für das Performance-Team um Merijn Zeeman bei der Planung der Grand-Tour-Squads für Mai und Juli.

Und so komisch es auch klingen mag. Es scheint so, als ob Wout van Aert der einzige Fahrer sei, der seinen Platz jetzt schon wirklich sicher hat. Der Gewinner der Grünen Trikots 2022 hat unmissverständlich erklärt, die Tour zu fahren. „Dahinter“ herrscht noch ein Vakuum – und viele nicht widersprüchliche, aber zweideutige Aussagen lassen Raum für Spekulationen.

Jenseits dieser stellt sich die Frage, wie fit Primož Roglič eigentlich ist und wann er nach seiner Operation die absolute Leistungsfähigkeit erreichen wird. In Sachen Grand-Tour-Planung wird viel vom Fitnesszustand des Slowenen abhängen – und so ist es gut möglich, dass die Performance-Abteilung zumindest für den Giro mit zwei unterschiedlichen Kapitänen plant.

Giro-Plan

Sollte Roglič bis zum Giro in Top-Form sein, könnte er Revanche für 2019 nehmen – als er taktisch unglücklich agierend Dritter wurde. Die drei Zeitfahren und die klare Dramaturgie der Italien-Rundfahrt dürften dem Slowenen mehr entgegenkommen als die durchaus unkonventionelleren Etappen der Tour 2023, wie beispielsweise zu Beginn in Spanien und das Ende in den Vogesen.

An der Seite Rogličs würden dann mit großer Wahrscheinlichkeit die Neuverpflichtungen Jan Tratnik und Attila Valter fahren – beide schon erfolgreich beim Corsa Rosa. Auch Rohan Dennis dürfte mit einer Nominierung rechnen, war er doch auch Edelhelfer von Roglic bei der Vuelta 2022. Der Australier hätte nach dem Giro genug Zeit, sich in aller Ruhe auf die Weltmeisterschaften im Zeitfahren vorzubereiten. In das Roster passt ein explosives Duo aus Top-Sprinter Olav Kooij und Puncheur Christophe Laporte, die auf den Flach- und Klassiker-Etappen in Italien für Siege sorgen können.

Bleiben aber noch drei Plätze übrig: Tobias Foss könnte sein Weltmeistertrikot nicht nur bei den drei Zeitfahren tragen, sondern im Schatten eines Leaders weiter wachsen und an seine Leistung von 2021 anknüpfen, als er Neunter wurde. Komplettieren ließe sich die acht Mann starke Squad mit Koen Bouwmann, dem einzigen Jumbo-Visma- Etappensiegers des Giro 2022 und Gewinner des Bergtrikots, sowie Sam Oomen. Durchaus eine schlagkräftige Truppe, wenn dann alle Genannten in Form sind. Doch wer in diesen Tagen planen muss, würde mit solch einer Formation, festgemacht an der Person Primož Roglič, ein großes Risiko eingehen?

Es gibt eine Option, eine sehr gute sogar: Wilco Kelderman. Der „verlorene Sohn“ kehrt an die Stätte seiner Anfänge zurück – feierte er doch in Jumbos Vorgänger-Team Blanco seine Giro-Premiere 2013. Heute, nach seinen Ausflügen zu den Teams DSM und Bora-hansgrohe, hat er mehr denn je das Zeug und Selbstvertrauen dazu, aufs Podium einer Grand Tour zu fahren.

Und Kelderman hat mit dem Giro selbst noch zwei Rechnungen offen – aus dem Corona-Jahr 2020, als er geopfert wurde und am Ende Dritter wurde sowie aus 2022, als er eine Schwäche auf der Bergetappe zum Blockhaus zeigte. Er ist zumindest für einen Podestplatz gut. Allerdings ist Kelderman auch in der Lage, sich in die Dienste eines Leaders zu stellen, was er 2022 eindrucksvoll bewiesen hat.
Denkbar ist zudem eine Doppelspitze. Mit Roglič an seiner Seite könnten das Team sogar noch taktieren – und der Slowene könnte Revanche nehmen für 2019, als Richard Carapaz die Patt-Situation zwischen ihm und Vincenzo Nibali ausnutzte und am Ende gewann. Sollte das Duo Roglič/Keldermann beim Corsa Rosa starten, wären wohl Tobias Foss oder Sam Oomen die Leidtragenden.

Jumbo-Visma – das Team der Tour

Tour-Strategie

Allerdings könnte Wilco Kelderman, gerade wegen seiner unprätentiösen Art, auch ein wichtiger Flügelmann für die Tour sein. Ein empathischer Edelhelfer, der im Fall der Fälle einspringt, um zumindest eine Top-Fünf-Position zu erreichen, falls der eigentliche Leader ausfällt. Und der wird für die Tour trotz aller Spekulationen dann wohl doch Jonas Vingegaard heißen. Schwer vorzustellen, dass die Startnummer eins am Rad von Roglic & Co. angebracht werden wird.

Roglič oder auch Kelderman könnten je nach „Vorbelastung“ des Giros, als Helfer in den Tour-Wochen zwei und drei den Dänen unterstützen und ihn gerade bei den hektisch anmutenden Bergetappen über den Joux Plane und durch die Vogesen eskortieren. Jonas Vingegaard selbst dürfte wohl die Etappe aufs Dach der Tour – den Col de la Loze – mit Ziel in Megeve für den großen Aufschlag präferieren.

Bis auf die Personalien Roglic und Kelderman stellt sich das Tour-Team dann in großen Teilen von selbst aus. Sepp Kuss, Tiesj Benoot und Steven Kruijswijk als letzte Helfer am Berg. Neuzugang Dylan van Baarle als bergfester Capitain de la Route, Wout van Aert als Alleskönner. Nach seinen Leistungen bei Giro 2022, wo er auf den schweren Bergetappen mehrfach in die Top Ten fuhr, dürfte sich der erst 23 Jahre alte Gijs Leemreize Hoffnungen machen, nominiert zu werden. Doch bis zur Tour sind es noch einige Monate und es kann viel passieren.

Wenn der Genesungsprozess von Primož Roglič optimal verläuft und er zum Giro in Top-Form ist, scheint das Team ein Luxusproblem zu haben. Falls nicht, könnte die Doppelspitze der vergangenen Jahre bei der Tour zum Einsatz kommen. So hängt in Sachen Planung einiges an Roglič, auch über den Sommer hinaus. Denn eine Kombination aus Giro und Vuelta ist ebenso denkbar, wie die Kombination Tour und Vuelta. Das gilt nicht nur für Roglič, sondern auch für Vingegaard, Kelderman, Foss & Co. Ob man Sepp Kuss unterdessen zutraut, das Team als Leader zu führen, wird man vielleicht bei der Vuelta sehen – doch wie ein möglicher Vuelta-Kader aussehen kann, hängt von Giro & Tour ab – und von der Personale Roglič.


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