Team Bora-hansgrohe

Je besser die Fahrer eines Teams, desto schwerer fällt der Teamleitung die Nominierung für die großen Rennen. Noch vor wenigen Jahren stellte sich das Team Bora-hansgrohe für die Tour de France fast von allein auf, nun hat man Luxusprobleme zu lösen. Die Wandlung zum GC-Team hat die deutsche Mannschaft vollzogen, mit dem Sieg beim Giro eindrucksvoll die Bestätigung geliefert.

Der Giro war 2022 die einzige Rundfahrt, bei der man sich voll auf die Gesamtwertung konzentrierte. Dieser Plan wurde im Winter gemacht, durchgezogen und ging komplett auf. Nun muss ein Plan für die neue Saison her – die Teamleitung muss dabei schwierige Entscheidungen treffen.

Unterschiedliche Grand Tours

Als Team muss man sich vor allem zwischen Giro und Tour entscheiden, was den Fokus der Klassementfahrer betrifft. Denn mit der Vuelta im Spätsommer sind beide Rennen recht gut kombinierbar. Die Charaktere von Giro d’Italia und Tour de France unterscheiden sich 2023 erheblich. Beim Giro gibt es gleich drei Zeitfahren, bei der Tour mehr Sprints und Bergetappen. Der Vuelta-Parcours ist noch nicht bekannt, doch man darf wohl wieder mit reichlich Bergen und supersteilen Ziegenpfaden rechnen. Unwichtig ist die Vuelta keineswegs, aber zunächst gilt es die richtige GC-Truppe für die anderen beiden Rundfahrten zu finden.

Geht man bei den Klassementfahrer im Team Bora-hansgrohe allein nach den physischen Fähigkeiten, würde man die starken Zeitfahrer zum Giro schicken, die reinen Kletterer zur Tour. Doch ganz so einfach ist es meist nicht – da kommen noch eine ganze Reihe weitere Überlegungen ins Spiel.

Tourchancen?

Das Team Bora-hansgrohe wird vermutlich erneut eine Grand Tour auswählen, bei der man stärker auf das GC schaut. Bei der anderen Rundfahrt kann man mit einer Doppelstrategie (Sprinter + GC) agieren. Es spricht einiges dafür, dass man lieber für die Tour mit Sprinter Sam Bennett plant, als zum Giro mit Doppelstrategie zu gehen. Zum einen bietet die Tour de France vermutlich mehr Sprintchancen, zum anderen stellt sich für Bora-hansgrohe die Frage, wie man insgesamt betrachtet mehr herausholen kann.

Bei der Tour de France tritt man wohl gegen Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar an. Es ist zu vermuten, dass weder Aleksandr Vlasov noch Jay Hindley schon soweit sind, diese Beiden aus den Schuhen zu fahren. Die Chance auf Etappensiege bei der Tour ist wohl wertvoller, als ein harter Kampf mit vielen anderen Top-Fahrern um Platz drei.

Giro-Kader

Will Bora-hansgrohe beim Giro voll in Sachen Gesamtwertung angreifen, würde die Wahl für Leader Nummer eins wohl auf Aleksandr Vlasov fallen. Der Tourfünfte von 2022 ist stark bergauf und zudem gut im Zeitfahren. Außerdem würde Vlasov bei der zu erwartenden Renngestaltung der Konkurrenz seine Karten gut ausspielen können. Denn es ist anzunehmen, dass die QuickStep-Mannschaft eher ein kontrolliertes Rennen für Leader Remco Evenepoel haben möchte, als einen verrückten Schlagabtausch. Der Giro 2023 ist so orchestriert, dass die Schlusswoche die Entscheidung bringt. Ein brutales Finale, für das es sich zuvor zu schonen gilt – zumindest, soweit möglich. Vlasov ist zäh, verfügt bei Puncheur-Finals über die Fähigkeit extrem tiefgehen zu können – nicht unwichtig beim Giro.

Das Problem an der Entscheidung: Vlasov als Leader zum Giro zu schicken bedeutet, den Giro-Sieger von 2022 zu Hause zu lassen. Mit Hindley und Vlasov gemeinsam beim Giro anzugreifen würde teamintern vielleicht mehr Probleme als Vorteile bringen, zudem ist es wohl besser die beiden besten GC-Fahrer auf zwei Rennen zu verteilen.

Jai Hindley zum Giro zu schicken würde für die Mannschaft Bora-hansgrohe natürlich extrem viel Aufmerksamkeit bringen. Der Titelverteidiger wird stets besonders beäugt, liefert immer Medien-Geschichten. Rein sportlich betrachtet wäre es aber nach Analyse des Parcours eine nachvollziehbare Entscheidung, würde man mit Hindley lieber zur Tour de France als Leader gehen. Zeitfahren ist nicht seine Paradedisziplin, die Berge schon eher. Eine offensive Renngestaltung sowieso. Den Giro hat er zudem schon gewonnen, die Tour ist Hindley noch nie gefahren! Geht man mit Sprintzug um Bennett und Hindley in die Tour, würde sich der Druck verteilen und man könnte den Kader breiter aufstellen.

Der Plan für die Wingman

Auch den Kolumbianer Sergio Higuita hatte man mit GC-Perspektive ins Team geholt. Der Kletterer konnte bei der Vuelta 2022 nicht das liefern, was man gehofft hatte. Dass man ihn nun direkt in die Rolle des (reinen) Helfers schiebt, ist vielleicht nicht zu erwarten. Möglich, dass man ihn wieder für die Vuelta als Leader plant. Oder nimmt man ihn als Co-Kapitän mit zu einer der anderen Grand Tours?

Gegen den Giro spricht, dass Higuita bei den vielen Zeitfahrkilometern wohl recht schnell in Helferrolle rutscht und so taktisch keine zweite Option entsteht. Bei der Tour de France ist wohl insgesamt wenig Platz für weitere GC-Männer, will man mit dem Sprintzug um Bennett antreten und vielleicht noch 1-2 Fahrer mit Chancen aus Gruppen mitnehmen. So kann man schnell auf die Idee kommen, mit Higuita einen zweiten Anlauf bei der Vuelta zu wagen.

Durch die wenigen Zeitfahrkilometer bei der Tour de France kann man natürlich auch an einen Fahrer wie Emanuel Buchmann als Co-Leader denken. Kein Kopfsteinpflaster, wenig Zeitfahrkilometer, keine ausgewiesenen Windkanten-Abschnitte – der Tour-Parcours dürfte Buchmann liegen. Doch gegen Pogacar und Vingegaard ist wohl wenig zu holen, teamintern an Hindley vorbeizukommen ist ebenfalls schwer. Aber „Emu“ wäre eine Option, die vor allem auch medial von Bedeutung sein kann. Für den Giro hingegen würde man „Emu“ aufgrund der Strecke wohl eher nicht als optimale Lösung sehen.

Doch es gibt bei Bora-hansgrohe nicht nur Higuita, Vlasov, Hindley und Buchmann als potenzielle GC-Fahrer. Beim inzwischen 26-jährigen Lennard Kämna wartet man darauf, dass er mal testen kann, wie weit es in Sachen GC geht. Kämna ist exzellent im Kampf gegen die Uhr, was für den Giro spricht. Zudem wäre ein GC-Test abseits der Tour de France mit deutlich weniger Medienrummel verbunden. Oder ist Kämna noch nicht soweit? Auch das wäre kein Problem, wie man beim Giro 2022 gesehen hat. Kämna gehörte zum erfolgreichen Giro-Kader und steuerte selbst einen Etappensieg der großartigen Team-Bilanz bei. Offiziell als Helfer starten, versuchen keine Zeit liegen lassen und mal gucken, wie weit es gehen kann – zu verlieren hätten er und das Team wenig.

Schickt man also den Giro-Titelverteidiger Hindley zur Tour, könnte man mit Vlasov und Kämna zum Giro fahren. Dazu die starken italienischen Helfer Giovanni Aleotti und Matteo Fabbro, plus Cesare Bendetti als Roadcaptain. Ben Zwiehoff hat sich mit seiner Giro-Leistung 2022 ebenfalls empfohlen. Dazu noch 1-2 starke „Tretviecher“ für die flachen und welligen Abschnitte – vor allem Patrick Gamper hatte sich 2022 in der ersten Girohälfte als Bodyguard hervorgetan.

Für die Tour de France wäre dann der Sprintzug um Bennett und GC-Kapitän Jai Hindley gesetzt. Nimmt man zudem Buchmann mit, könnten Max Schachmann, Bob Jungels und beispielsweise Nils Politt den Kader komplettieren. Keine schlechte Truppe, für den Parcours der Tour de France 2023! Higuita wäre dann für die Vuelta der Mann fürs GC – im Frühjahr kann er bei den Klassikern gemeinsam mit Schachmann & Co wirbeln.


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