1 | Die spannendste Tour de France aller Zeiten
Jaja, Laurent Fignon damals gegen Greg LeMond – die legendären acht Sekunden! Ok, dies wird der knappste Vorsprung eines Toursiegers bleiben. Aber die spannendste Tour de France aller Zeiten erleben wir 2022. Das Rennen beginnt mit einer epischen ersten Woche, die eine Gesamtwertung hinterlässt, die schwer zu greifen ist. In den Alpen tanzen Pogacar und Roglic die Berge hinauf, doch wie das bei Duellen so ist, profitieren meist Dritte. So handeln sich die Überflieger einen Rückstand ein, der nicht so leicht wiedergutzumachen ist.
Auf dem Weg in die Pyrenäen verschwindet das wohlige Gefühl der beiden rivalisierenden Teams (UAE & Jumbo-Visma), weil Ineos & Co. ein eigenes Spiel spielen. Die Konkurrenz feuert aus allen Rohren, während Roglic und Pogacar sich gegenseitig leichtfüßig über die Planken der Pässe jagen, wie Piraten im Säbel-Duell auf ihren Dreimastern. Dabei entschwindet ihnen immer wieder mal ein Konkurrent aus den Augen. Auf dem Weg nach Hautacam wird es ein episches Rennen geben, doch die Schlacht wird erst im Zeitfahren entschieden – Überraschung inklusive.
Jeden Tag ein Spektakel, vom windigen Dänemark über den epischen Kampf im Elsass in die Alpen, die für eine große Überraschung sorgen werden. Die letzte Woche wird dann Popcorn pur. Die ARD wird jubilieren und vergessen nach Buchmann zu fragen, während Schachmann bis in die Pyrenäen eine Hand am Gelben hat.
Die schönste Rundfahrt des Jahres wird dennoch wieder der Giro sein.
Überprüfung
- Das beschriebene Szenario wurde nicht Wirklichkeit, aber dennoch war es eine großartige Tour de France voller toller Geschichten und viel Spannung. Ja, die Tour de France war mit Abstand die unterhaltsamste Grand Tour der Saison, auch dank Jonas Vingegaard. So lag ich mit der These nicht ganz richtig, aber auch nicht richtig falsch. Die spannendste Tour aller Zeiten war es vielleicht nicht, aber sicher eine der unterhaltsamsten der vergangenen 15 Jahre.
2 | DSM – Podiums-Pass im Party-Hemd
Hinter DSM liegt ein beschissenes schwieriges Jahr. Wenig Erfolge, Stimmung im Keller, Top-Fahrer weg und dazu gibts den Spott der Radsport-Bubble. Ob es bereits eine Fan-Freundschaft mit dem HSV gibt, ist nicht bekannt. Die niederländische Mannschaft (endlich wieder mit niederländischer Lizenz) schüttelt das alte Jahr einfach ab, hängt es wie den Wintermantel im Frühjahr einfach in den Schrank der Vergangenheit. Zum Vorschein kommt das Party-Hemd. Mit den jungen Wilden, einer lockeren Stimmung und reichlich Potenzial lässt man sich kein Tanz-Event im UCI-Kalender entgehen.
Sie haben weder Mathieu van der Poel noch Wout van Aert, weder Roglic noch Pogacar und auch keinen Julian Alaphilippe. Aber sie haben einen Kader voller junger Talente, die mit einem guten Gefühl, guter Stimmung, Selbstvertrauen und neuer Ausrichtung Spaß am Sport haben.
Es wird vermutlich keine QuickStep-Saison werden, mit 50+ Siegen. Iwan Spekenbrink wird nicht mit weißem Hut dem Het Nieuwsblad eine provokante Kolumne diktieren – aber sie werden ein ganz anderes Gesicht zeigen, als 2021. Ob sie dann am Ende des Jahres wieder das Party-Hemd in den Schrank hängen werden, und den zu engen schwarzen Keep-Challenging-Mantel für 2023 überstreifen, bleibt abzuwarten – 2022 jedenfalls wird ein gutes Jahr für DSM.
Überprüfung
- Komplett daneben. Leider. Es gelang dem Team nicht, die Stimmung zu verändern, das Ruder rumzureißen. Es war die nächste katastrophale Saison, an deren Ende das Team vor größeren Problemen steht, als noch zu Beginn des Jahres. Fahrer und Staff gehen, teils verliert das Team langjährige wertvolle Kräfte. Die jungen wilden mit neuem Spirit zu Erfolgen führen – auch das gelang kaum. Diese These war komplett falsch – hoffentlich ergeht es dem Team 2023 besser.
3 | Total Energies – Treibstoff für Sagan
Peter Sagan ist samt Entourage zum französischen ProTeam TotalEnergies gewechselt. Viele deuteten den Wechsel als Abstieg des ehemaligen Top-Stars um beim letzten großen Vertrag noch einmal die Taschen so richtig voll zu packen. Eine Karriere am ausklingen.
Peter Sagan – die Ausnahmeerscheinung. Ein Popstar und der vielseitigste Fahrer der Welt. Sieben Grüne Trikots, drei Mal Weltmeister, zwei Monumente, 12 Tour-Etappen, insgesamt 119 Siege. Peter Sagan war der Größte. Nun sind Van der Poel, Van Aert, Pogacar, Alaphilippe,… Remco die neuen Helden. Der fliegende Sagan, der in Lüttich 2012 (streng genommen im Vorort Seraing) beim ersten Tour-Etappensieg Cancellara entthronte und wenig später mit Running-Man-Geste und Bubi-Grinsen spielend weiter siegte, gehört der Vergangenheit an. „Peter der Große“ war einmal.
Sagan hat schwierige Jahre hinter sich, privat, gesundheitlich, sportlich. Doch Peter Sagan ist ein Racer. Ein Radsportler besonderer Klasse. Er hat Gespür, Mut, Radbeherrschung und körperliche Voraussetzungen wie nur sehr wenige andere Sportler. Bei Total Energies kommt etwas zurück, was er vermisst hat – der Spaß. Er hat den Vertrag in der Tasche, er ist nicht mehr der Top-Favorit bei jedem Rennen und kann es nehmen, wie es kommt. Er ist frei.
Einfach Radfahren. Auch das ist Peter Sagan. Dazu hat er eine abgewichste sehr erfahrene Truppe an seiner Seite, die jeden Klassiker zu einem Gemetzel machen kann. Sagan hat noch nicht fertig. Bremst ihn seine erneute Corona-Infektion nicht so stark aus, wird er die Klassiker aufmischen und auch wieder auf einem Podium stehen!
Überprüfung
- Auch diese These bewahrheitete sich nicht. Peter Sagan erwischte wieder eine schwierige Saison, erneut sehr von Covid geprägt. Im Januar die erste Covid-Infektion des Jahres, die ihn den Großteil des Frühjahrs kostete. Dann fand er langsam wieder in den Tritt, gewann eine Etappe bei der Tour de Suisse – zack, die nächste Covid-Infektion. Dennoch fuhr er die Tour. Am Ende war es eine ganz schwierige Saison, die man schwer bewerten kann. Mit Rang sieben bei der WM verabschiedete sich Sagan ordentlich – es ist zu hoffen, dass er gesund bleibt und vielleicht 2023 noch einmal angreifen kann. Fakt ist: These = falsch.
4 | Die Tour de France Femmes wird ein voller Erfolg
Die Tour de France der Frauen kehrt zurück und die Organisation hat eine Strecke entworfen, die aus dem einwöchigen Rennen ein Spektakel macht. Jeder Renntag hält eine Überraschung bereit und die Fahrerinnen packen täglich die Brechstangen aus. Es wird ein Hype entstehen, das Rennen wird sich entfalten und die Zuschauer so in den Bann ziehen, dass der Vergleich mit dem Männerrennen endlich der Vergangenheit angehört und Platz geschaffen ist, für einen eigenen Weg des Sports.
Überprüfung
- Ja, die Tour de France Femmes war ein Erfolg! Ein riesiges mediales Echo, ein tolles Rennen und echter Booster für den Frauenradsport. So kann es gern weitergehen, wobei die Aufmerksamkeit sich künftig ruhig etwas breiter streuen darf, nicht so fokussiert auf der Tour liegt. Was mein Gefühl betrifft, lag ich bei dieser These richtig.
5 | Bora-hansgrohe – Mission Druckausgleich – einfach aushalten
Das Team Bora-hansgrohe hat den Kurs gewechselt. Ab 2022 ist man eine vielseitige GC-Equipe. Kader neu, Sportliche Leitung neu, Sportchef neu, Klamotten neu, Ziele neu … da darf man locker von Umbruch sprechen. Und wie das so mit großen Umbrüchen ist – auf Anhieb funktioniert es selten. Routinen werden bewusst aufgebrochen, aber neue Strukturen brauchen Kommunikation um zu entstehen und meist eben auch Zeit sich zu entwickeln und einzuschleifen.
Doch mit all zu viel Geduld des Umfelds und der Fans darf man im Sport nicht rechnen. Was im Fußball mit „die Tabelle lügt nicht“ gemeint ist, ist im Radsport die Zahl der Siege, oder eben Top-Platzierungen bei Monumenten und Grand Tours. Auch Bora-hansgrohe muss liefern, will man kritischen Fragen ausweichen. Klappt das nicht sofort, wird der Druck steigen. Immer weiter. Rolf Aldag wird sich sicher an die Telekom-Zeiten erinnern, als man nach einem weniger guten Frühjahr mit einer Sieg-Pflicht beim Henninger Turm startete.
Im Jahr 2022 geht es für Ralph Denk und sein Führungsteam um eins: Aushalten. Es wäre ganz natürlich, würde es eine Weile dauern, bis die Veränderungen greifen. Die Messlatte muss man intern anders anlegen, als es von außen passieren wird. Zündet Bennetts neuer Sprintzug nicht sofort – aushalten. Kann Max Schachmann bei Paris-Nizza eben nicht zum dritten Mal in Folge gewinnen – aushalten. Gewinnt Nils Politt keinen großen Klassiker – aushalten. Es wird Kritik geben, sollte es nicht auf Anhieb laufen. Die Journalisten werden fragen und die Sponsoren sicher auch mal vorsichtig den Entwicklungs-Prozess erfragen. Aushalten!
Ralph Denk hat sein Team auf eine beeindruckende Weise von der kleinen ProConti-Klitsche mit Schmalspur-Budget und auf steter Jagd nach Wildcards und Fluchtgruppen zu einem der Top-Teams der WorldTour gemacht. Er hat in der Vergangenheit clevere Personalentscheidungen getroffen, hat bei all seiner Zielstrebigkeit & Härte das richtige Gespür für Kader, Struktur und Personen gehabt. Das gibt ihm spürbar Zuversicht und Selbstvertrauen, auch die Basis dieses Umbruchs. Das muss er nun an sein Team und den Kader weitergeben. Aushalten, wenn es Gegenwind gibt, den Druck ausgleichen und zuversichtlich bleiben.
Das erste Saisondrittel wird vielleicht schwierig, ab dann wird es laufen. Und die großen Kritiker im Frühjahr 2022 werden in 1-2-3 Jahren Denks-Weg überschwänglich loben, wenn ein Vlasov-Hindley-Uijtdebroeks-Higuita-Schachmann-Buchmann-Kämna vom Podium einer Grand Tour winkt. Auch dann gilt es: Aushalten, weitermachen!
Überprüfung
- Auch bei dieser These lag ich im Kern richtig, auch wenn die frühen Erfolge von Aleksandr Vlasov im ersten Saisondrittel die schwachen Leistungen bei der Klassikern überdeckten. Dennoch, die vielen Krankheitsfälle, die erfolglose Klassikersaison – es gab einiges auszuhalten und durchaus Gegenwind. Im Rückblick lässt sich darüber schmunzeln, dass während der Valencia-Rundfahrt im TV kritisch diskutiert wurde, dass sich Bora-hansgrohe zwar als GC-Team sähe, aber keine Fahrer verpflichtet habe, die Grand Tours gewinnen können. Im Mai gewann Jai Hindley den Giro – der erste Grand-Tour-Sieg für das Team von Ralph Denk, nach einem harten Umbruch im Winter. Ganz sicher eine der großen Geschichten dieser Saison. Was die These anbetrifft: Im Kern lag ich richtig, auch wenn der Erfolg schneller kam, als gedacht.