5 Thesen für die Saison 2023 – Jörg Ludewig

Wir sammeln die Thesen einiger Radsportexperten für die Saison 2023 ein – hier die von Ex-Profi, Eurosport/GCN-Experte und Alpecin Head of Sportmarketing Jörg Ludewig.

1 | Mathieu van der Poel fährt bei der Tour wieder ins Gelbe Trikot 

Nach seinem Parforceritt an der Mûr-de-Bretagne 2021 holt sich der niederländische Alpecin-Deceuninck-Profi auch 2023 das Gelbe Trikot für ein paar Tage. Gerade deshalb, weil er mit der für ihn durchwachsenen zweiten Hälfte der Straßensaison 2022 noch eine Rechnung offen hat.

Die Streckenführung der Tour in den ersten Tagen im Baskenland liegt ihm und, da muss man ganz ehrlich sein, durch den Startverzicht von Remco Evenepoel, stehen seine Chancen zumindest nicht schlecht, Fahrer wie Fred Wright, Tadej Pogačar oder Wout van Aert in die Schranken zu verweisen und erneut das Gelbe zu holen. 

Ich befürchte aber auch, dass er sein erstes großes Ziel in 2023 nicht erreichen wird. Cyclocross-Weltmeister wird der aktuell beste Athlet auf einem Fahrrad – Wout van Aert. Trotzdem, oder gerade deshalb traue ich einem der besten Entertainer der radsportlichen Neuzeit den Coup mit Gelb zu. Wenn nicht auf Etappe eins, wird es für Mathieu auf der zweiten Etappe klappen.

2 | Wout van Aert gewinnt drei Monumente

Wout ist auf dem absolut höchsten Level seiner Leistungsfähigkeit angekommen – mehr geht nicht, so scheint es jedenfalls. Es ist und bleibt vor allem für seine Konkurrenten spannend, wie lange er dieses abartig hohe und fast unmenschliche Niveau halten kann.

Daher glaube ich, dass er nach einer langen und zielführenden Pause vom Cyclocross und einem anschließenden Neuaufbau die Worte von Altmeister Tom Boonen im Hinterkopf hat und bei den Klassikern allen in diesem Jahr das Fürchten lehren wird. 

Er kann momentan einfach alles, egal auf welchem Fahrrad und auf welchem Untergrund, berghoch wie bergrunter. Daher gewinnt er in Sanremo, holt sich die Flandern-Rundfahrt und als i-Tüpfelchen auch noch den Pflasterstein in Roubaix.

Dieses Drehmoment, seine schier nicht zu erschöpfende Ausdauer und eine Premium-Betreuung im Team Jumbo-Visma mit Helfern wie Dylan van Baarle und Christophe Laporte sind zum Leidwesen der Konkurrenz Parameter, die Wout in den kommenden ein bis zwei Jahren an Tagen, an denen er absolute Top-Form hat, nahezu unschlagbar machen.

3 | Liane Lippert macht den entscheidenden Schritt und wird in Glasgow Weltmeisterin

Meiner „Lieblingsathletin“ Liane, die ich nunmehr über 10 Jahre kenne und seitdem ihren Weg verfolge, gelingt in 2023 der ganz große Durchbruch. Wenngleich sie – zu meinem persönlichen Bedauern – sich nicht im Frauen-WorldTeam von Alpecin-Deceunick auf die Jagd nach Siegen macht, hat sie nach dem Tapetenwechsel von DSM zu Movistar nun ein optimales Umfeld.

Sie hat bei Movistar die Freiheit und das richtige Fahrrad, um endlich den ganz ganz großen Knaller zu landen!

Spaß beiseite, ob ein Canyon oder vorher ihr tolles Scott Bike… Lilly hat bisher auf jedem Arbeitsgerät gezeigt, dass am Ende häufig nur das Quäntchen Glück gefehlt hat, wenngleich ich DSMs Taktik auch nicht immer nachvollziehen konnte.

Wie auch immer, das neue Umfeld, vor allem auch ohne die absolute Sieg-Garantin Lorena Wiebes, die für Lilly persönlich vielleicht mehr Fluch als Segen war, wird ihr zugutekommen; und die sympathische, akribische und fleißige Liane final nach ganz oben katapultieren.

Sie stand bereits vergangenen Herbst bei der WM in Australien schon kurz vor dem ganz großen Durchbruch – und wird daher im schönen Glasgow auf einer Strecke, die ihr liegen sollte, endlich verdiente Straßen-Weltmeisterin der Frauen Elite.

4 | „Pogi“ gewinnt die Tour – wegen seines Bisses, Allan Peipers Rückkehr und neuen Materials

Tadej Pogačar ist (m)ein Fahrer fürs Herz! Er besitzt einen tollen Leumund im Feld, genießt viel Anerkennung und freut sich sogar für die Gegner, die ihn selbst persönlich besiegen. Er hat ein Lächeln auf den Lippen, selbst wenn er nicht gewinnt.

Ich kenne auf solch einem hohen Niveau keinen besseren Verlierer als ihn. Für mich ein echter Champion, der auch gibt und nicht nur nimmt. Ich habe meine GCN-Interviews mit ihm sehr genossen.

Nach seinem tollen, knappen zweiten Platz in 2022, nun mit neuem Material und wieder vereint mit seinem Lieblings-Sportlichen-Leiter Allan Peiper, nebst gefühlt stärkster Mannschaft überhaupt im Peloton, holt er sich seine dritte Tour de France und ist dort in diesem Jahr unbezwingbar.

5 | Jay Vine wird der Shootingstar der Saison, weil…

… er einfach völlig enthusiastisch und wie kein Zweiter das Thema Radsport lebt. Sein Sieg bei den australischen Meisterschaften im Zeitfahren gegen die Spezialisten und der Auftritt bei der Tour Down Under haben das bereits gezeigt. Für mich ist Jay einer der völlig unterschätzten Athleten im Peloton, selbst noch nach seinen beiden Vuelta-Etappensiegen.

Er ist nahezu davon besessen, seine Arbeit im Training wie im Rennen perfekt zu erledigen – und plant jeden Tag auf die Sekunde genau, mit dem Ziel, ein besserer und stärkerer Rennfahrer zu werden.

Man kann Alpecin-Deceuninck keinen Vorwurf machen, ihn ziehen zu lassen; Jays Traum war und ist es, im Team von, mit und bei Tadej Pogačar zu fahren.

Ich denke, dass er mit seinem inzwischen erreichten Körpergewicht, seines Watt-pro-Kilogramm-Verhältnisses und dem neuen Set-Up auf dem Zeitfahrrad für viele überraschend die Vuelta 2023 gewinnen wird.


Die Saisonthesen der anderen Experten: