5 Thesen für die Saison 2023 – Bernd Landwehr

Wir sammeln die Thesen einiger Radsportexperten für die Saison 2023 ein – hier die von unserem Chefredakteur Bernd Landwehr.

1 | UAE, das neue Über-Team

Mit fettem Budget, klugen Transfers und Tadej Pogacar hat das Team UAE sich nach und nach zu einer Top-Mannschaft entwickelt. Für das Jahr 2023 ist man noch stärker aufgestellt. Bislang hing der Erfolg des Teams hauptsächlich an Überflieger Tadej Pogacar, doch nun ist man auch in der Breite so stark, dass die Konkurrenz in Probleme gerät, wenn „Pogi“ nicht dabei ist.

Das Team UAE wird die Über-Mannschaft der Saison. Nicht Jumbo-Visma oder Ineos Grenadiers. Auch nicht Soudal-QuickStep. UAE hat sich eine Struktur geschaffen, die extrem gut funktioniert und hungrig nach Erfolg ist. Die großen Ziele werden wieder UAE-Tour und Tour de France sein – vor allem dort soll Superstar Tadej Pogacar brillieren. Doch die Mannschaft hat auf jedem Terrain, in jeder Saisonphase die Möglichkeit, Rennen zu gewinnen und auch zu dominieren – vor allem was Etappenrennen anbetrifft.

Mit Juan Ayuso wächst das nächste Große Talent heran, Adam Yates hat einen klar definierten Job und kann abseits der Helferrolle für Pogacar ohne Druck auf eigene Rechnung fahren. Joao Almeida muss liefern, wird wegen des internen Drucks noch motivierter sein, als sonst. Brandon McNulty ist bereit für den finalen Schritt in die absolute Weltspitze und Fahrer wie Marc Hirschi sind sicher heiß wie Frittenfett.

Dazu gehören zur zweiten Reihe in diesem Team Fahrer wie Felix Großschartner, Alessandro Covi, George Bennett, Marc Soler, Tim Wellens, Matteo Trentin und Diego Ulissi. Diese Qualität in der Breite ermöglicht es einem Team, eine Siegermentalität reifen zu lassen, die bei verteiltem Druck die maximale Leistung herauskitzelt. Genau das wird 2023 passieren.

In Australien ging es nun schon los – Jay Vine holte den TT-Titel und dann den Gesamtsieg bei der Tour Down Under. Es werden einige weitere große Siege folgen. Die Latte liegt nach 48 Erfolgen 2022 sehr hoch, aber sie wird am Ende vielleicht sogar noch übertroffen.

2 | Alpecin-Deceuninck – zu großer Schritt

Die Entwicklung des Teams Alpecin-Deceuninck ist beindruckend. Rund um Superstar Mathieu van der Poel haben die Roodhooft-Brüder ein sehr erfolgreiches Team geformt, sodass man in die World-Tour aufsteigen konnte. Nicht nur bei den Männern wurde nach und nach ein großes Projekt aufgebaut – auch bei den Frauen und im Cross ist man mit Elite-Team + Development-Fraktion extrem stark aufgestellt.

Doch so erfolgreich man zuletzt auch gewesen ist, der Sprung in die WorldTour kam für das Männer-Team zu früh. Die Infrastruktur ist noch nicht auf allerhöchstem Niveau, das führt zu Überlastung an einigen Stellen – gerade, wenn es mal irgendwo klemmt und Ressourcen konzentriert werden müssen. Dazu ist die Kader-Stärke für die komplette WorldTour-Saison noch nicht auf Top-Level. Alle Klassiker, Giro, Tour, Vuelta – wer übernimmt wo die Kapitänsrolle, wenn Van der Poel eine Pause braucht oder sich auf das nächste Highlight vorbereitet?

Jasper Philipsen und Neuzugang Kaden Groves können sicher bei einigen Sprints Erfolge holen, aber in Sachen GC sieht es in den Reihen des belgischen Teams ziemlich dünn aus – vor allem gegen die brutal starke Konkurrenz. Das bedeutet, man wird sich oft auf Etappensiege konzentrieren müssen, abseits der Sprints. Doch auch dort ist die Konkurrenz groß.

Gelingt Van der Poel eine super Klassiker-Saison, wird das sicher den Druck für den Giro nehmen. Doch was passiert, sollte der große Star mal wieder ausfallen? Können Philipsen und die Neuzugänge Quinten Hermans und Sören Kragh Andersen in die Bresche springen? Wie groß wird die Mehrbelastung aufgrund des WorldTour-Status? Entstehen Probleme aufgrund der knappen Ressourcen und der breit aufgestellten Struktur mit Männern, Frauen, Cross und Nachwuchsprogrammen?

Meine These ist, dass für die Mannschaft der Schritt in die WorldTour zwar verlockend und nachvollziehbar war, allerdings etwas zu früh kommt. Mit Ausnahmefahrer Mathieu van der Poel hat man in der Spitze Qualität auf WorldTour-Level, in der Breite fehlt es aber, den Ansprüchen zu genügen. Der neue Status bringt Verpflichtungen mit sich – Rennen, Struktur, Erwartungen der Sponsoren und auch der Fans. Das Jahr 2023 wird ein Übergangsjahr, bei dem die Verantwortlichen sicher auch auf die Geduld von Fans & Sponsoren angewiesen sind.

3 | Das neue Ineos macht großen Spaß

Als man noch Sky hieß stand die Mannschaft für „Rennen ersticken“, galten als „Spaßbremsen“ und „unsympathische Dauergewinner“. Nun hat man sich nach und nach verändert. Gezwungenermaßen, wegen der starken Konkurrenz und dem Pech der Leader (Stichwort Bernal / Thomas), aber auch auch aufgrund der neuen Zusammenstellung des Teams. Für das Jahr 2023 gab es einen Umbruch, wenn auch nicht sofort erkennbar, weil einige der Kapitäne bleiben. Doch mit Richie Porte, Dylan van Baarle, Adam Yates, Richard Carapaz und Andrey Amador verlassen Eckpfeiler die britische Mannschaft.

Ineos musste sich verjüngen, und sie haben es konsequent getan. Satte 12 Fahrer sind nun jünger als 24! Verlassen gestandne Fahrer und alte Heldes ein Team, entsteht Raum, den die jungen Talente füllen. Bei Ineos sind Raketen in den Startlöchern, die für attraktiven, mutigen und erfolgreichen Radsport stehen. Ethan Hayter, Tom Pidcock, Carlos Rodríguez, Ben Tulett, Magnus Sheffield, Luke Plapp, Ben Turner, Leo Hayter, …. . Klar, gegen die Überflieger wie Van Aert, Pogacar und Van der Poel setzt man taktisch gern mutige, starke und hungriger Männer – bei Ineos hat man nun einige davon, das wird man in der Renngestaltung bei den Klassikern sehen.

Die Zeiten von „Wattmesser-Taktik“ sind vorbei, zumindest bei den Rennen abseits der Grand Tours. Jetzt kommt das Rambazamba-Ineos – offensiv, aktiv, mutig – den Fans wird es gefallen.

4 | Marco Brenner startet durch

Als Marco Brenner 2021 aus den Junioren direkt in die WorldTour wechselte, war der Hype groß. Die guten Ergebnisse in den Nachwuchsrennen zeigten, welch Talent er besitzt. Direkt war vom „nächsten Jan Ullrich“ die Rede, wie einige Jahre zuvor schon bei Lennard Kämna. Der Hype ebbte ab, nicht zu Brenners Nachteil. Er sammelte Erfahrungen, stieß sich hier und da auch mal die Hörner ab und fasste Fuß im Team DSM. Wie bei den meisten Fahrern, die die U23-Klasse überspringen, gab es auch für Brenner ein paar Lektionen zu lernen. Überziehen im Training, taktische Fehlerchen, die Suche nach der Balance zwischen Ehrgeiz und Entspannung – solche Sachen gehören eben dazu. Brenner hat in der WorldTour nicht direkt gezündet, wie damals Remco Evenepoel oder zuletzt Juan Ayuso, aber dennoch besitzt er großes Talent. Schritt für Schritt ist Brenner der Weltspitze näher gekommen, hat mit 20 Jahren seine erste Grand Tour beendet.

Im Jahr 2023 wird er nun auch Ergebnisse einfahren, die seine Entwicklung belegen. Meine These: Er wird seinen ersten Profisieg holen und zeigen, dass er nicht nur Talent besitzt, sondern in der Entwicklung einen Schritt gemacht hat.

5 | Aufbruch in Stuttgart & Deutschland

Am 16. Juli wird es in Stuttgart den Women’s Cycling Grand Prix geben und als einer der Initiatoren hoffe ich natürlich besonders, dass die Premiere gelingt. Bei dem erfahrenen Rad-Event-Veranstalter Albrecht Röder und Ex-Pro Lisa Brennauer als Sportliche Leiterin, ist der Grand Prix in besten Händen. Die Unterstützung von Stadt und Region ist groß und meine Zuversicht ebenso. Meine These ist, dass das neue Rennen in Stuttgart nur ein Teil des Aufbruchs in Sachen Frauenradsport ist.

Die LOTTO Thüringen Ladies Tour will für 2024 den Schritt in die World Tour machen, die Tour de France Femmes wird nach der sehr erfolgreichen Premiere 2022 sicher erneut ein großes Highlight und die UCI scheint mit den neuen Regelungen sinnvolle Leitplanken setzen zu wollen. Aus deutscher Sicht hat man auf der Straße mit Liane Lippert eine Weltklasse-Sportlerin, die auf dem Sprung in die absolute Weltspitze ist und klar Aushängeschild, aber auch Vorbild für den Nachwuchs ist.

Die internationale Entwicklung, die positiven Signale, aufstrebende nationale Mannschaften und nicht zuletzt auch das neue Stuttgarter Rennen werden auch in Deutschland Wirkung zeigen. Die Schritte werden vielleicht nicht riesig sein, aber spürbar und hoffentlich nachhaltig. Das fängt bei Sponsoren an, geht bis zu Teams und Events. Wer weiß, vielleicht gibt es in naher Zukunft ja sogar noch ein weiteres UCI-Rennen für Frauen in Deutschland – eine gelungene Premiere in Stuttgart würde sicher helfen.