Profil Mailand-Sanremo 2023

Mailand-Sanremo, „la Primavera“, ist das erste Monument des Jahres. Ein traditionsreiches Rennen und der erste Höhepunkt der neuen Radsportsaison. Stolze 294 Kilometer lang ist das Rennen in diesem Jahr, das mit einem unglaublichen Spannungsbogen aufwarten kann.

Zunächst hält sich die Spannung gepflegt in Grenzen, doch wenn das Peloton die ligurische Küste erreicht hat, geht es los. Positionskämpfe hier, Hektik dort. Tempo und Spannung steigen bis in die berühmten Anstiege auf den letzten Kilometern – und führen zu einem der packendsten Finale überhaupt, bei dem sich so viele unterschiedliche Fahrertypen vorher noch eine Siegchance ausrechnen können. 

Bekanntlich gilt Mailand-Sanremo als das leichteste der fünf Monumente, das zugleich aber am schwierigsten zu gewinnen ist. Nicht umsonst seufzte Mathieu van der Poel im Vorjahr, nachdem er als Dritter die Ziellinie überquert hatte: „Es ist ein kompliziertes Rennen. Es ist nicht einfach, es zu gewinnen.“   

Werden in diesem Jahr die Top-Favoriten wie Tadej Pogacar oder Wout van Aert ganz vorne sein oder ein Sprinter wie Caleb Ewan? Wird Benoît Cosnefroy schon an der Cipressa attackieren oder ein Außenseiter wie Biniam Girmay im Sprint einer größeren Gruppe seine Chance nutzen? Und mit welchem technischen oder taktischen Coup wartet Vorjahressieger Matej Mohoric dieses Mal auf? Spekulieren lässt es sich beim typischen Rennverlauf lange, selbst Stunden nachdem der Startschuss erfolgt ist.

Die Strecke

Karte: Mailand-Sanremo 2023

Die Strecke wartet zum Start mit einer Neuerung auf: Der Klassiker wird nämlich nicht am namensgebenden Ort losgehen, sondern in bester Paris-Roubaix-Manier ein paar Kilometer entfernt, in der kleinen Stadt Abbiategrasso rund 25 Kilometer von Mailand entfernt. Ein Grund für diese Premiere: In Mailand stehen an dem Tag nicht genügend Verkehrspolizisten zur Verfügung.

Entsprechend anders verlaufen auch die ersten flachen 30 Kilometer des Rennens in Richtung Pavia, wo die Fahrer dann auf die bekannte Route treffen. Wie im Vorjahr steht der Turchino-Pass wieder auf dem Programm, entlang der traditionsträchtigen Via Aurelia geht es schließlich gen Sanremo. 

Mit den fünf „Capi“ – den kurzen, aber steilen Anstiegen auf den letzten rund 55 Kilometern zum Ziel, beginnt das Finale des Rennens. Zunächst Capo Mele (51,5 km vor dem Ziel) und Capo Cervo (46,6 km vor dem Ziel). Dann Capo Berta (38,8 km vor dem Ziel). Vor den Anstiegen wird es im Feld extrem schnell, und alle Favoriten müssen hellwach sein. Die Kapitäne wollen möglichst weit vorn sein, damit sie bei Stürzen oder einem Riss im Feld nicht abgehängt werden.

Der vorletzte Anstieg ist die 5,6 km lange Cipressa (Steigung 4,1 %). Das große Feuerwerk gibt es meist erst am Poggio, oder wird es in diesem Jahr anders laufen?

Cipressa und Poggio

Schlüsselstelle Poggio

Meist fällt die Vorentscheidung am Poggio. Im Jahr 2017 blieb der spätere Sieger Michal Kwiatkowski Peter Sagan auf den Fersen, als der hier das Tempo anzog. Ein Jahr darauf stiefelte Vincenzo Nibali allein davon und freute sich, dass ihn auch bis ins Ziel keiner mehr begleiten sollte. In den beiden folgenden Jahren war es Julian Alaphilippe, der am Poggio die Vorentscheidung herbeiführte. 2019 gewann er selbst, 2020 musste er sich Van Aert geschlagen geben. 2021 setzte Stuyven in der Abfahrt vom Poggio die Attacke aus der Spitzengruppe und holte sich den Sieg. 2022 sicherte sich Matej Mohorič mit Cleverness, Taktik und der vielzitierten absenkbaren Sattelstütze den Tagessieg, indem er am Poggio als erster Verfolger einer Gruppe mit Van der Poel, Van Aert, Kragh Andersen und Pogacar hinterherraste, sie überholte und den Vorsprung ins Ziel rettete. 

Die Auffahrt zum Poggio beginnt 9 Kilometer vor der Ziellinie. Es geht 3,7 Kilometer auf einer schmalen Straße mit vier Haarnadelkurven bergan. Wer hier angreifen will, sollte vor dem Anstieg schon gut positioniert sein. Entsprechend schnell und hektisch wird es im Kampf um die Positionen vor dem Anstieg.

Die letzten Kilometer von Mailand-Sanremo

Die Favoriten

Zu den Top-Favoriten zählt in diesem Jahr ganz sicher der Vorjahresfünfte Tadej Pogacar, der sich in bestechender Form präsentiert. Pogacar hat alle drei Rennen, die er in diesem Jahr bestritten hat, gewonnen, zuletzt Paris-Nizza. An 13 Renntagen fuhr er gleich sieben Mal als Erster über die Ziellinie.

Wout van Aert weiß nicht nur, wie man den italienischen Klassiker gewinnt, sondern präsentierte sich bei Tirreno-Adriatico jüngst vor allem am Berg in sehr guter Verfassung. Auch wenn er noch nicht bei 100 % angekommen ist, gilt er bei vielen Buchmachern als Top-Favorit. Vorjahressieger Matjej Mohorič hatte zuletzt zwar eine kleine Rennpause eingelegt, bei Strade Bianche aber mit einem starken Auftritt gezeigt, dass mit ihm zu rechnen ist. Allerdings ist es seit Erik Zabel 2001 niemandem mehr geglückt, das Rennen zweimal in Folge zu gewinnen.

Thomas Pidcock, Gewinner bei Strade Bianche, wäre ebenso einer der Favoriten. Doch er musste bei Tirreno-Adriatico sturzbedingt vorzeitig raus und wird wegen einer Gehirnerschütterung in Mailand nicht am Start sein. Gut in Form haben sich zuletzt auch Mads Pedersen, Jan Tratnik, Jasper Stuyven und Caleb Ewan präsentiert, die allesamt weit vorne landen können. 

Mathieu van der Poel kommt zwar besser in Schwung, ist von seiner Top-Form aber noch ein Stück entfernt, Ähnliches gilt für Julian Alaphilippe, Søren Kragh Andersen und Arnaud Démare. Ganz abschreiben sollte man aber keinen. Der Vorjahresvierte Michael Matthews wird wegen einer Corona-Infektion fehlen. 

Wie eingangs erwähnt, liegt der Reiz dieses Klassikers darin, dass auch Außenseiter eine Siegchance haben – Gerald Ciolek lässt grüßen. Biniam Girmay, der im letzten Frühjahr so groß auftrumpfte, kommt allmählich in Schwung, derweil Neilson Powless oder Arnaud De Lie ihre starke Frühform bereits mehrfach gezeigt haben. Sam Bennett von Bora-hansgrohe hat sein Potenzial bei einigen Top3-Ergebnissen bei der UAE Tour und Paris-Nizza aufblitzen lassen und wird wie Marius Mayrhofer (DSM) darauf hoffen, dass es zum Sprint einer größeren Gruppe kommen wird.

Team-Taktiken 

Nach Strade Bianche gab es viele Diskussionen über die Taktik von Jumbo-Visma, die ihre Überzahl in der erfolgversprechenden Verfolgergruppe nicht zum Sieg nutzen konnten. Auch bei Mailand-Sanremo kann die Teamtaktik im Finale eine wichtige Rolle spielen, da auch die Mannschaften der Top-Favoriten mehrere Karten ausspielen könnten. Bei Jumbo-Visma wird Wout van Aert unter anderem von Jan Tratnik, Nathan Van Hooydonck und Christophe Laporte unterstützt – eine starke Klassikerriege ebenso wie Soudal-Quick Step, wo Julian Alaphille noch Frühjahrsspezialisten wie Florian Sénéchal und Yves Lampaert an seiner Seite wissen kann.

Ineos Grenadiers ist mit dem endschnellen Elia Viviani, dem tempoharten Filippo Ganna sowie Ex-Sieger Michal Kwiatkowski quasi für alle Szenarien gewappnet, derweil Pogacar bei UAE Emirates u.a. mit Davide Formolo, Felix Großschartner, Diego Ulissi, Matteo Trentin und Alessandro Covi eine bärenstarke Mannschaft hinter sich weiß. 

Man darf gespannt sein, wer am Ende mit welcher Taktik die Nase vorn behält und wer sich in den Tagen danach darüber ärgern darf, dass er bei diesem komplizierten Rennen wieder nicht gewonnen hat. Übrigens: Ursprünglich war für dieses Jahr die erste Austragung eines Frauenrennens bei Mailand-Sanremo geplant, die Pläne sind aber auf das kommende Jahr 2024 verschoben worden.

Pogacar, der Top-Favorit

Mit diesem komprimierten Finale ist der Poggio die Schlüsselstelle. Wer die Chance haben möchte, am Ende um den Sieg zu fahren, muss hier vorn dabei sein – so war es zumindest in den vergangenen Jahren und ist es auch in diesem Jahr zu erwarten. Es ist natürlich nicht unmöglich, dass ein größeres Feld wieder zur Spitze aufschließt, falls diese am Poggio nur einen kleinen Vorsprung hat, doch damit ist für Samstag eher nicht zu rechnen. Denn zum einem sollen die Fahrer an der Küste Rückenwind in Richtung Sanremo haben, was eher zum Vorteil der Ausreißer ist, zum anderen hat der Top-Favorit auf den Sieg keine Lust auf einen Sprint. Ganz im Gegenteil! Tadej Pogacar würde die Gruppe, die es vorn mit ihm über den Poggio schafft, möglichst klein halten. Dafür wäre es hilfreich, würde er bereits an er Cipressa seine Teamkollegen ein hartes Tempo fahren lassen. Mit Ulissi, Trentin und Großschartner hätte er exzellente Helfer dafür. Dann müsste ihm idealerweise Tim Wellens die finale Poggio-Attacke vorbereiten. Geht dieser Plan für UAE auf, bleibt die große Frage: Wer kann Pogacars Attacke folgen? Oder attackiert er wohlmöglich sogar schon an der Cipressa? Die Antwort gibt es erst im Rennen.

***** Tadej Pogacar
**** Wout van Aert
*** Mads Pedersen, Biniam Girmay
** Mathieu van der Poel, Matej Mohoric, Jasper Philipsen, Magnus Cort
* Ganna, Ewan, Alaphilippe, De Lie, Vendrame, Laporte, Gaviria,

Start: 9:50 Uhr
Ziel: ~17:10 Uhr

Die (vorläufige) Startliste bei First Cycling 

Deutsche Siege:
4x Erik Zabel (1997-1998-2000-2001)
1x Rudi Altig (1968)
1x Gerald Ciolek (2013)
1x John Degenkolb (2015)


Der letzte deutsche Sieger – John Degenkolb 2015

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Mailand-Sanremo