Es gibt ganz wenige Radrennen, bei denen Profis Stolz empfinden, wenn sie es einfach nur bis in Ziel geschafft haben – der Ritt in der „Hölle des Nordens“ ist eines von ihnen. Paris-Roubaix ist ein absurdes Rennen, das nicht in diese Zeit zu passen scheint, aber eine unglaubliche Begeisterung entfacht. Selbst Fahrer die weit aus dem Zeitlimit sind, biegen auf die Radrennbahn in Roubaix und bringen diesen Ritt zu Ende. Der Litauer Evaldas Šiškevičius ließ 2018 das Tor zum Velodrom noch einmal öffnen, damit er seine Runde im Oval drehen konnte.
„Wer behauptet, dass er es liebt, erzählt Schwachsinn“, sagte einst Rolf Aldag, aktuell Sportdirektor beim Team Bora-hansgrohe. Radlegende Bernard Hinault hasste Paris-Roubaix, gewann es aber dennoch, um zu beweisen, dass er es kann. Es ist eben ein ganz besonderes, unvergleichliches und stets spektakuläres Radrennen.
„Ein Haufen Scheiße & das schönste Rennen der Welt“
Legendär ist das Zitat von Theo de Rooy aus dem Jahr 1985, das den Mythos Roubaix ganz gut beschreibt. „Dieses Rennen ist Schwachsinn. Du arbeitest wie ein Tier, du hast keine Zeit zum Pinkeln, machst dir in die Hose. Es ist ein Haufen Scheiße”, sagte er nach dem Rennen. Als der Reporter fragte, ob er denn jemals wieder starten würde, antwortete de Rooy sofort: „Natürlich, es ist das schönste Rennen der Welt“.
Bei Paris-Roubaix spielen sich stets große Dramen ab, werden immer aber auch Helden geboren. Und seit nun drei Jahren auch Heldinnen – denn endlich gibt es auch eine Austragung für die Frauen. Das Pflaster von Roubaix übt eine fast magische Anziehungskraft aus.
Erst zwei Deutsche konnten in der 120 jährigen Geschichte des Rennens gewinnen. Zuletzt war es John Degenkolb, 2015. Davor Josef Fischer, 1896. „Mindestens 50% sind die Beine. Du musst top drauf sein, um dabei bleiben zu können. Aber der Kopf ist extrem wichtig. An sich zu glauben, nicht aufzugeben, sich nicht verrückt machen lassen, an sein Konzept zu glauben“, erklärte John Degenkolb das Erfolgsrezept für Roubaix.
Vor wenigen Jahren wurde ihm ein Abschnitt gewidmet, nachdem er sich für den Erhalt des Nachwuchsrennens eingesetzt hatte und dies gemeinsam mit Fans rettete. Neben Degenkolb ist mit Nils Politt ein weiterer Pflasterspezialist am Start. Politt stand bereits auf dem Podium, will dort nach Möglichkeit wieder hin. Bei einem perfekten Tag in der Hölle des Nordens ist dies ganz sicher möglich – doch neben super Beinen und einer fehlerfreien Taktik gehört da auch etwas Glück dazu.
Die Strecke
Auch die 120. Ausgabe startet in Compiègne und führt ins Velodrom von Roubaix. Im Vergleich zum vergangenen Jahr sind die Änderungen der Strecke nur recht klein. Der Sekto Haspres (km 139,6) kehrt nach fast 20 Jahren Pause zurück in den Parcours.
Vor wenigen Jahren wurde die Passage im Wald von Arenberg neu vermessen und sie nun offiziell 100 Meter kürzer – steht nun also mit „nur noch“ 2300 Metern im Roadbook. Brutal ist dieser Pflaster-Abschnitt weiterhin, auch wenn er vor wenigen Jahren komplett renoviert wurde. Auch wenn der Arenberg eine Roubaix-Legende ist – der Abschnitt ist erst seit Ende der 60er Jahre im Programm. Bevor es auf das Kopfsteinpflaster geht, wird um die Positionen gekämpft und das Tempo im Feld ist enorm hoch – dann geht es mit 60 km/h in die berühmteste Kopfsteinpflaster-Waldschneise der Welt. Vor Jahren stürzte hier Johan Museeuw und brach sich die Kniescheibe.
Nach “dem Wald” wird sortiert und geschaut, wer noch zur Gruppe der Favoriten zählt, oder wer vielleicht durch einen Sturz oder Defekt aufgehalten wurde. Von hier aus sind es noch rund 95 Kilometer bis ins Velodrom. Man muss nicht in den ersten 3-4 Positionen aus dem Wald kommen, um am Ende eine Chance zu haben, aber auch wenn nach dem Arenberg eine taktische Phase beginnt, sollte man in Reichweite der anderen Favoriten sein.
Etwas weniger als 50 Kilometer vor dem Ziel kommt die nächste Schlüsselstelle – der Sektor Mons-en-Pévèle. Sektor für Sektor schwinden die Kräfte und der Tritt wird immer schwerer. Es schleichen sich kleine Fehler ein, die schwerwiegende Folgen haben können. Ein Schlagloch falsch erwischt kann zu einem Platten führen.
Die Positionen vor den Pflasterstücken werden immer wichtiger, denn verlassen die Fahrer davor die Kräfte, ist es schwer, vorbeizufahren und die Lücke nach vorn zu schließen.
Ein Ort der Vorentscheidung ist oft der legendäre Le Carrefour de l’Arbre – eines der schwersten Pflasterstücke, nur rund 17 Kilometer vor dem Ende. Die Fahrer sind am Rande der Erschöpfung, die Körperspannung lässt nach. Hier muss man auch mental stark sein, die eigenen Grenzen verschieben.
Im schmalen Spalier der ekstatischen Fans wird jedes Korn auf die Straße geworfen, das sich irgendwie noch im völlig erschöpften Körper finden lässt. Vorn geht es dabei um die Podiumsplätze beim härtesten Rennen der Welt – hinten nur noch darum, auf dem Rad zu bleiben. Am Carrefour de l’Arbre können die Fans sehen, was dieses Rennen mit ihren Helden macht. Leere Blicke, Schmerz-Grimassen, kaum noch Spannung im Oberkörper – sie wollen unbedingt, aber der Körper kann einfach nicht mehr.
Der passende Abschluss für dieses Spektakel ist das Finale auf der Radrennbahn in Roubaix. Die Helikopter kündigen die nahenden Radhelden an, dann biegen sie ein, ins Velodrom. Die Masse der Fans erzeugt dabei eine atemberaubende Kulisse – das Grummeln wird immer lauter, dann biegen die schmalen, komplett verschmutzen Gestalten in die Arena ein. Die Tritte sind längst nicht mehr rund, die Körper sind leer, aber mit allem, was der Körper hergibt wird auf die Pedale eingetreten. Die Fahrer versuchen, sich auf den eineinhalb Runden nicht einbauen zu lassen, sollten sie mit einer kleinen Gruppe das Ziel erreichen. Dann der Sprint, der aus einem Fahrer einen Pflaster-Helden für die Ewigkeit macht. Wer das Privileg hat, das Rennen im Solo zu gewinnen, wird von diesen Runden im Velodrom noch viele Male berichten.
Wann sind die Fahrer bei welchem Abschnitt? Hier gibts die offizielle Marschtabelle.
Die Favoriten
Paris-Roubaix ist ein Rennen, das schwer Fehler verzeiht, bei dem man nie aufgeben darf und in den entscheidenden Momenten hellwach sein muss. Es ist meist ein Ausscheidungsfahren, bei dem am Ende mit jedem Pflasterstück immer mehr Fahrer aussortiert werden und nur die Stärksten vorn bleiben. Allerdings spielt dabei durchaus die Taktik eine Rolle! Denn Attacken der Favoriten sorgen meist für eine Vorselektion. Verpasst man den Angriff und ist einmal abgehängt, ist es extrem schwer, die Lücke wieder zu schließen. Nur manchmal gelingt das, wie beispielsweise bei John Degenkolbs Sieg 2015. Neben der notwenigen Stärke, der Zähigkeit und dem fahrerischen Können braucht es meist auch etwas Glück. Ein Platten im falschen Moment, oder der Sturz eines Konkurrenten direkt vor sich – Paris-Roubaix kann von einer auf die andere Sekunden gelaufen sein. Auch aus diesem Grund sind die Abschnitte vor den Pflaster-Sektoren so hektisch und umkämpft – jeder Fahrer will möglichst weit vorn auf das Pflaster fahren, so die Risiken minimieren. Das führt dann zu einem echten Sprint auf die Sektoren – zumindest so lange, wie die Beine das noch hergeben.
Nach seinem starken Auftritt bei den bisherigen Klassikern ist Mathieu Van der Poel der Top-Favorit auf den Sieg. Der Crossweltmeister hat einen großen Motor, ist sehr explosiv, hat eine herausragende Radbeherrschung und ist in exzellenter Form. Kommt es wieder zum großen Duell mit Dauerrivale Wout van Aert? Möglich. Van Aert war bei der Flandern-Rundfahrt gestürzt und hatte sich am Knie verletzt. Man muss abwarten, ob er tatsächlich in Vollbesitz seiner Kräfte ist.
Extrem stark präsentierte sich zuletzt auch Ex-Weltmeister Mads Pedersen. Der Däne ist sehr gut in Form und mit seiner Power wie gemacht für die Hatz über das Pflaster. Das gilt auch für Stefan Küng, der 2022 auf dem Podium stand. Van Aerts Teamkollege Christophe Laporte ist ebenfalls stark einzuschätzen und könnte in Sachen Taktik bei Jumbo-Visma die offensive Karte sein. Dazu hat man noch den Sieger von 2022 in den eigenen Reihen: Dylan van Baarle.
Matej Mohoric und Kasper Asgreen zeigten sich zuletzt auch stark und mit ihnen dürfte bei Paris-Roubaix zu rechnen sein. Wohl auch mit Nils Politt. Bei Filippo Ganna ist ausreichend Power definitiv vorhanden, man muss abwarten, wie gut er mit den Tücken des Pflasters zurechtkommt. Am Start stehen eine ganze Reihe erfahrener und starker Fahrer – Alex Kristoff, Oli Nasen, John Degenkolb, Sep Vanmarcke, Jasper Stuyven, Jonas Rutsch, Ivan Cortina, Max Walscheid, Matteo Trentin, Anthony Turgis, Yves Lampaert …. gegen Mathieu Van der Poel und Wout Van Aert zählen sie allerdings nicht zu den absoluten Top-Favoriten. Gespannt darf man auch auf den jungen Arnaud De Lie sein, der mit 21 Jahren auf dem Pflaster bereits mehrfach beeindruckte und sein Roubaix-Debüt gibt.
Einige junge Fahrer mit viel Talent sind auch am Start, die man im Auge behalten sollte – vielleicht auch für die Zukunft. Matis Louvel beispielsweise, oder Ward Vanhoof und Lewis Askey. Stan Dewulf zählt nicht mehr in die Kategorie „Talent“, sollte man aber auch auf dem Zettel haben. Bei dem schweren und starken Norweger Søren Wærenskjold darf man auch gespannt sein, wie es ihm gelingt, seine Power auszuspielen.
**** Mathieu van der Poel
*** Wout van Aert, Mads Pedersen
** Christophe Laporte, Matej Mohoric, Stefan Küng, Kasper Asgreen, Nils Politt
* Ganna, Van Baarle, Stuyven, Vanmarcke, Jakobs, Kristoff, Naesen, Degenkolb, Ballerini
Start: 11:10 Uhr
Ziel: ~17:30 Uhr
Die Startliste:
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