Am Fernsehbildschirm sieht ein Massensprint ziemlich wild aus. Oftmals lässt sich Sekunden vor der eigentlichen Zieldurchfahrt nicht erahnen, wer an welcher Position über die Ziellinie fahren wird. Teilweise sind die Sprintzüge, die sich mehrere 1000 Meter vorher aufgebaut haben, nicht mehr in Formation oder kaum zu sehen. Manchmal kommt auf den letzten Metern ein Fahrer von weit hinten und übertrumpft die Konkurrenz. Massensprints sehen für den geneigten Betrachter oft nach Zufall aus. Doch es ist eine komplexe Disziplin, hinter der viel mehr steckt, als pure Kraft und Timing.
Die TV-Kameras versuchen im hektischen Finale die Top-Sprinter ins Bild zu rücken. Welchen Weg sie genommen haben, wird dann aber meist erst in der Wiederholung aus der Helikopterperspektive sichtbar. Von oben wird deutlich, welche Rolle die Teamkollegen gespielt haben und was der clevere Move war.
Im Rennen braucht es einen klaren Blick, Vertrauen und noch einiges mehr! Für CyclingMagazine hat Anfahrer Alexander Krieger vom Team Alpecin-Deceuninck die Anatomie eines Sprints seziert. Der 31 Jahre alte Schwabe hatte entscheidenden Anteil an wichtigen Sprint-Etappensiegen bei den vergangenen Grand Tours – wie bei Tim Merliers Erfolg beim Giro 2021, Jasper Philipsen Siegen bei der Vuelta 2021 und bei der Tour 2022.
„Irgendeiner wird immer irgendwas verkacken. Das ist normal und das ist auch menschlich„
Alex Krieger über den Job der Anfahrer
„Man denkt ja, das läuft nach einem ganz standardisierten Muster ab. Aber ich glaube, das kann es nur, wenn es fünf eingespielte Fahrer sind. Also im Kern ein Sprintzug, bei denen die Fahrer schon vorher sehr viel zusammengefahren sind und wo alles aufeinander abgestimmt ist. Aber so etwas sieht man gerade einer Grand Tour nur noch sehr selten. Viele Teams gehen mit unterschiedlicher Strategie und Optionen an den Start. Oft finden sich in den Startlisten ja mehr GC-Teams als reine Sprintermannschaften“, erklärt Krieger.
Auch das Team Alpecin-Deceuninck setzt bei diesem Giro nicht ausschließlich auf Tageserfolge im Sprint. Mit Nicola Conci, Stefano Oldani und Kristian Sbaragli sind Fahrer dabei, die auch aus Ausreißergruppen heraus gewinnen können. „Unseren Sprinter Kaden Groves werden im Finale Ramon Sinkeldam und ich als Lead-Out unterstützen“, erklärt Krieger. „Geplant ist für den Beginn, dass Ramon letzter Mann ist und ich davor fahre. Aber das kann sich im Laufe des Giros auch noch ändern.“ Ein Problem hat Krieger mit dieser „neuen“ Position nicht, denn er hat auch noch eine andere Aufgabe zu erfüllen: „Meine Aufgabe liegt auch darin, zu koordinieren, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind.“ Sprich, er muss seine Equipe in Richtung Finale delegieren. Dafür schaut er sich vor den jeweiligen Etappen das Profil an – über das Tool Veloviewer und Google Maps.
„Unser Ziel bleibt immer die 200-Meter-Marke“
Alexander Krieger
„Ich recherchiere und mache mir im Vorhinein meine Gedanken über die jeweilige Etappe und deren Ankunft. Das ist aber auch mein Job in dieser Rolle. Deswegen beteilige ich mich aktiv im Meeting “, erklärt Krieger, der kein Problem damit hat, Verantwortung zu übernehmen und auch Ansagen zu machen. „Die Idealvorstellung ist, dass wir hier beim Giro auf den letzten Kilometer mit zwei Fahrern und einen Sprinter gehen. Am Ende läuft das dann schon so, dass wir einen Plan haben. Aber diesen detailliert zu erstellen und zu befolgen, ist schwierig, da es mehr als 160 andere Fahrer gibt, die auch einen Plan verfolgen.“
„Wir überlegen uns vorher, bis wohin wir entspannt gesammelt im hinteren Teil des Feldes fahren und wann wir an Ort und Stelle sein müssen. Wenn wir kompakt mit sieben oder acht Leuten fahren, sind wir unflexibel. Man kann da nicht ständig Ansagen, ob wir auf der Geraden links fahren und auf die nächsten Geraden rechts fahren.“
„Vom Gelände und den Windverhältnissen hängt es ab, wann wir die Nase im Wind haben. Wir versuchen natürlich auch die GC-Teams so gut wie möglich zu nutzen. Selbst bei Sprintetappen investierten diese Teams unheimlich viel und fahren auch viel von vorne. Oftmals die letzten 30 Kilometer bis zur drei-Kilometer-Marke. Das Team Ineos-Grenadiers ist für mich beispielsweise gut berechenbar. Wir halten denen den Rücken frei. Dann können sie bis zur Drei-Kilometer-Marke ihr Ding machen. Bis dahin fährt auch keiner von uns an ihnen vorbei. Danach übernehmen wir.“
Die Zeiten in denen Sprintzüge 20 Kilometer vor dem Ziel das Kommando auf Flachetappen übernommen haben, ist Geschichte: „Den Sprinterzug, den wir noch von den Zeiten eines Erik Zabel oder Alessandro Petacchi kennen, gibt es nicht mehr. Die Sprints werden heute ganz anders gefahren. Wer sich die Sprints bei der Tour de France anschaut, wird feststellen, dass gar nicht mehr viele Sprinter zum Schluss überhaupt einen Lead-out-Fahrer hatten. In Dänemark beispielsweise waren nur noch drei Fahrer da, die einen Anfahrer hatten: Laporte für Van Aert, Stuyven für Pedersen und ich für Philipsen. Und dann gab es auch noch Etappen, wo es noch weniger waren. Die Rennen sind davor schon so schwer“, erklärt Krieger.
„Der Plan ist es immer, den Sprinter bis zur 200-Meter-Marke zu bringen. Im Zweifel auch bis 150 Meter vor Ziel, wenn es beispielsweise Berg hochgeht oder aber wir Gegenwind haben. Aber wenn es anders kommt, müssen wir adaptieren. Und auch der Sprinter muss cool genug sein, wenn wir ihn bei 500 Meter absetzen. Unser Ziel bleibt immer die 200-Meter-Marke. Das ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach bei allen Teams mit einem Sprinter das erklärte Ziel. Aber die Frage ist auch immer, wie wieviele Fahrer überhaupt noch im Feld sind und der eigenen Mannschaft zur Verfügung stehen.
Vertrauen als Schlüssel
„Wenn wir recht früh nur noch zu zweit sind, muss ich, wenn ich meinen Sprinter bis 200 Meter bringen will, selbst sparen, wo es geht. Ich kann nicht beliebig lange ein irre hohes Tempo fahren. Wenn ich ihn bei 500 oder 600 Meter abliefere, kann ich bis dahin extrem smooth, kräftesparend und flüssig fahren. Dieses geschmeidige Surfen – wie wir es nennen – ist für den Sprinter auch viel angenehmer, weil er nicht ständig beschleunigen und sacken lassen muss“, so Krieger.
Natürlich können wir immer versuchen, bis 200 Meter zu kommen. Die Frage ist nur, ob das dann auch an dem Tag das Beste für den Sprinter ist. Ich bin davon überzeugt, dass es besser ist, wenn man einen Sprinter bei bis circa 500 Meter vor Ziel ganz smooth und ohne viel Energieeinbußen bringt, anstatt das Lead-out auf Biegen und Brechen bis zur 200-Meter-Marke zu fahren.“ 500 Meter erscheinen von außen zwar nach einem extrem langen Weg, den der Sprinter selbst ohne Hilfe zurücklegen muss, aber Alexander Krieger gibt Entwarnung.
„Ab 500 Meter vor dem Ziel muss er gar nicht mehr so viel wuseln. Denn da ist das Rennen schon sehr sehr schnell. Wenn ihn sein Anfahrer da an eine gute Position bringt, beispielsweise an das Hinterrad eines anderen, sehr schnellen Sprinters, der vielleicht noch ein Mann vor sich hat, ist das ideal.“ Wichtiger als die Distanz zum Ziel, die der Sprinter allein (also ohne eigenen Anfahrer) zurücklegen muss, ist die Tatsache, dass er noch frisch genug ist, um den ultimativen „Kick“ zu setzen.
Ein gutes Lead-out verlangt Vertrauen hin. Und Vertrauen braucht eben Zeit also Renntage
Alex Krieger
„Entscheidend ist es, dem Sprinter so viel mit wie möglich und so lange wie möglich seine Sorgen abzunehmen. Er soll sich auch so lange wie möglich keinen mentalen Stress machen und auch natürlich auch seine Ressourcen schonen. Das erfordert immer ein großes Vertrauen, dass untereinander herrschen muss. Ist das Vertrauen erst mal da, muss der Sprinter sich auch gar kein Kopf machen und weiß, solange ich meinen Anfahrer vor mir habe, ist alles gut. Ist dieses Vertrauen noch nicht da, dann stresst ihn das Finale, vielleicht schon 10 Kilometer vor dem Zielstrich.
Alexander Krieger verdeutlicht das an einem Beispiel, dass in Sprints immer wieder vorkommt: „Wenn ich als Lead-out-Mann mal sacken lasse und denke, jetzt machen wir mal ein bisschen Ruhe das kriegen wir schon wieder hingebogen, dann das den Sprinter nicht nervös machen. Wenn er denkt: ‚Oh Mist, jetzt kommen wir nie wieder nach vorne. Ich kann nicht sprinten. Das war’s‘, dann verliert er die Nerven und macht vielleicht sogar eine überstürzte Aktion. Ein gutes Lead-out verlangt Vertrauen hin. Und Vertrauen braucht eben Zeit also Renntage.“
„Oftmals machen die Fahrer auch einen Top-Job und man sieht es im ersten Moment gar nicht“
Für Krieger selbst ist solch ein Lead-out immer ein bisschen die Balance zwischen „nicht die Nerven zu verlieren“ und „nicht zu locker sein“. „Wenn ich jetzt komplett nervös werden würde, dann würde ich viel zu viel Energie verbrauchen. Aber manchmal muss man auch die Eier in der Hose haben, mal sacken zu lassen. Denn irgendwie geht ja dann auch noch mal die Tür auf. Wenn man weiß, wie es geht, dann bietet sich schon immer noch mal eine Chance. Natürlich kann man sich auch mal verpokern. Aber im Normalfall muss man etwas die Ruhe bewahren und lieber in Kontakt bleiben. Ich sage nicht, dass das einfach ist, denn jeder Fahrer ist auf seine Art emotional und will alles richtig machen. Im Lead-out kann es dann auch schon mal so chaotisch ablaufen, dass ein Fahrer untergeht. Es ist wichtig, sich hier auch für das Team zu committen und nicht den Lead-out zu fahren, bei dem man im Fernsehen besonders gut aussieht. Oftmals machen die Fahrer auch einen Top-Job und man sieht es im ersten Moment gar nicht.“
„Wenn man sich auf ein paar Dinge festlegt, dann ergibt sich der Rest meistens von selbst. Als Fahrer darfst Du eben keine Panik schieben, wenn du aufgrund irgendwelcher Ereignisse dann doch auf der falschen Straßenseite bist. Denn es ist ja nicht so, dass nur der eine Weg zum Ziel führt. Das ist so ein bisschen die Flexibilität, die du dir immer bewahren musst. Da läuft vieles intuitiv ab. Du hast gar nicht mehr die Zeit darüber nachzudenken. Du siehst beispielsweise eine Lücke aufgehen und fährst dann hinein – in dem Wissen, dass du beispielsweise noch zwei Mann deines Teams hinter dir hast“.
„wenn es zu laut wird, müssen wir einfach schreien“
Krieger über Kommunikation im Finale
Zu dritt ist ein Leadout-Zug sehr kompakt, aber auch sehr flexibel. „Umso kompakter wir sind, umso besser können wir dann im Endeffekt durchs Feld surfen. Es ist mittlerweile so, dass großen Lead-outs gegenüber den kleinen benachteiligt sind. Zu zweit oder zu dritt kannst Du viel einfacher durchs Feld surfen. Das funktioniert mit sieben Mann enfach nicht. Zum einen bist du ein viel zu großer Bollen und wenn du mit sieben Mann in eine Lücke fährst, dann kommen ja gar nicht alle durch. Zudem hat man ja nie sieben Mann, die das auch technisch umsetzen können.“
Intuition
„Am Ende ist aber auch viel Intuition, weil du gar nicht alles planen kannst. Daher müssen wir auch in den Meetings darauf achten, eine Balance zu finden. Manchmal ist es wichtiger, sich über die Anfahrt auf einen Kreisverkehr 40 Kilometer vor dem Ziel fünf Minuten zu unterhalten und manchmal ist es aber auch besser einen Kreisverkehr innerhalb der letzten drei Kilometer einfach zu sagen, da fahren wir links durch fertig. Ich glaube, dass das Team so Fahrer wie Ramon und mich mitgenommen hat, dass man gerade vor der Etappe nicht so viel darüber diskutieren müssen, sondern dass wir das unterwegs regeln.„
Kommunikation ist im Sprint und seiner Vorbereitung der Schlüssel zum Erfolg: „Wir müssen viel miteinander sprechen, was im Übrigen gar nicht so einfach ist. Von außen denkt man immer, wir haben ja Funk und sprechen da rein und fertig. Die Verständigung über das Radio ist schon sehr eingeschränkt. Zumindest wenn es von den Fahrern ausgeht. Das muss dann meist die Sportliche Leitung wiederholen, dass es bei allen ankommt. Den Sportlichen Leiter verstehen wir meist recht gut, die anderen Fahrer sehr schlecht. Zumeist muss der Sportliche Leiter einfach wiederholen, was der Fahrer gesagt hat. Und wenn es zu laut wird, müssen wir einfach schreien. Dan muss halt jeder das Kommando weitergeben. Irgendwann muss man auch die Hände am Lenker behalten. Idealerweise spielen sich die Abläufe mit der Zeit ein und wir müssen immer weniger kommunizieren.“
Auch im Fall der Fälle – wenn der Sprinter das Hinterrad verliert, wird kommuniziert. „Wir haben dann ein Wort wie ‚warte‘“ , sagt Krieger. „Ich warte dann, bis mein Sprinter mich wiederfindet. Warten bedeutet aber in dem Fall, dass ich meine Position halte. Ich warte, bis er wieder zu mir kommt und nicht ich zu ihm. Beim Wiederfinden kommen immer die Hinteren zu den Vorderen. Und nicht die vorderen zu den hinteren.“
„Beim Wiederfinden kommen immer die Hinteren zu den Vorderen. Und nicht die vorderen zu den hinteren“
Alex Krieger
So komisch es auch klingen mag: Nicht immer, wenn „sein Sprinter“ als Erster über die Ziellinie fährt, kann sich Krieger freuen. „In Carcassonne vergangenes Jahr als Jasper die Tour-Etappe gewonnen hat, war ich mit meiner eigenen Leistung nicht zufrieden. Dann brauche ich schon eine Weile, bis ich mich über den Sieg von ihm freuen konnte. Es ist einfacher für mich, wenn ich weiß, dass ich es perfekt gemacht habe. Aber ich weiß auch, dass nie acht von acht Mann bei einer Etappe den perfekten Job machen. Irgendeiner wird immer irgendwas verkacken. Das ist normal und das ist auch menschlich. Es geht nicht anders.“