Rund 270 Kilometer, mehr als 3600 Höhenmeter – lang, schwer, das Finale auf einem Stadtkurs – das Straßenrennen in Glasgow hat einen typischen WM-Parcours. Rennen mit Nationalmannschaften und ohne Funk sind selten, taktisch speziell und haben eigene Gesetze. Die Mannschaften sind unterschiedlich stark besetzt, es formen sich manchmal Allianzen von Kollegen der Profi-Teams.
Der Stadtkurs in Glasgow ist knifflig, mit vielen kurzen Anstiegen. Zudem ist das glatte Kopfsteinpflaster in einem Abschnitt nicht ohne Tücken – regnet es, kann es gefährlich werden. Zudem war noch am Freitag viel Schmutz auf der Strecke, gab es auch von Athleten Kritik am Parcours der Stadtrunde.
Wie oft bei WM-Rennen darf man wohl mit einem Ausscheidungsfahren rechnen. Oft wird nach rund 200 Rennkilometern mal das Tempo forciert und „durchgeruckt“ – das Feld massiv ausgesiebt. Im Finale machen dann die besten Fahrer das Rennen unter sich aus. Doch die Strecke in Glasgow bietet verschiedenen taktischen Varianten Spielraum. Früh in die Offensive gehen, kann zum Teil Kraftersparnis bedeuten – denn bei den vielen Kurven der Stadtrunde muss man im Feld gut in Position fahren, oder nach den Kurven durch den Ziehharmonikaeffekt immer wieder beschleunigen.
Vielleicht eine frühe Gruppe initiieren, in der starke Helfer platziert werden, dann einen der Kapitäne nach vorn schicken, wenn es in Glasgow über die Runden geht. Haben mehrere starke Mannschaften solche Gedanken, kann das Rennen auch aus einer Fluchtgruppe entschieden werden. Ohne Funk müssen die Teams sehr aufmerksam sein, stets schauen, welche Gruppen sich formieren. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit kann die Niederlage besiegeln – oder zumindest einen hohen Kraftaufwand in der Verfolgungsarbeit bedeuten.
Möglicher Rennverlauf (update nach Junioren-Wettbewerben)
Nach den Erkenntnissen aus den Junioren-Rennen ist zu erwarten, dass es im Männer-Rennen direkt auf den ersten Stadtrunden zur Sache gehen kann. Die Teams wollen ihre Kapitäne vorn platzieren, was auf dem engen Parcours in Glasgow schwer ist und die Teams viel Kraft kosten wird. Doch fährt man auf diesem Kurs in den ersten Stadtrunden sehr weit hinten, kann das Rennen schnell vorbei sein. Bei hohem Tempo auf den ersten Stadtrunden kann sich das Feld schnell ausdünnen.
Vermutlich wird es nicht das sonst übliche Ausscheidungsfahren geben, sondern das Rennen „nach vorn entschieden“. Also lösen sich Fahrer aus dem Feld nach vorn, die das Rennen unter sich aus machen. So kann es durchaus sein, dass bereits deutlich mehr als 50 Kilometer vor dem Ende die entscheidende Gruppe steht. Dabei muss diese Gruppe nicht mit einer Attacke entstehen, sondern kann sich eine Gruppe formieren, später dann noch einige Fahrer von hinten zu dieser nach vorn springen. Das wird auch beim taktischen Plan der Top-Mannschaften berücksichtigt werden. Erst die Fahrer der zweiten Reihe nach vorn schicken, dann vielleicht den Kapitän nachziehen und an der Spitze mit mehreren Fahrern agieren können. Doch ohne Funk bedeutet dies eine sehr aufmerksame Fahrerweise an der Spitze – für alle Teams. Die deutsche Mannschaft wird mit sechs Fahrern versuchen, auf dem Stadtkurs vorn im Feld zu sein, dann die möglichen Attacken mitzugehen und so vorn zu sein, wenn die Top-Favoriten von hinten zur Spitze aufschließen.
Man darf mit einem offensiven Rennen rechnen, doch bei einer WM kann viel passieren. Auf diesem Stadtkurs in Glasgow bedeutet ein Defekt in vielen Momenten das Aus fürs Rennen. Man darf gespannt sein, was dieser sehr enge, umstrittene und fast kriteriumsmäßige WM-Kurs für das Rennen bedeutet.
Die Strecke
Gestartet wird das Rennen der Männer in Edinburgh. Die ersten Kilometer sind flach, dann gibt es zwei Anstiege – der schwierige ist „Crow Road“ – aber auch kein Monsterberg – fünfeinhalb Kilometer mit rund 4%. Nach rund 120 Kilometern wird der Stadtkurs in Glasgow erreicht.
Die Runde ist 14,2 Kilometer lang, hat rund 215 Höhenmeter – unzählige Kurven und einige kurze Anstiege. In den ersten Runden werden die Fahrer keine Probleme mit den steilen Passagen haben, alle Anstiege sind nur wenige hundert Meter lang – doch mit der Dauer des Rennens und der Ermüdung der Fahrer können diese kurzen Anstiege durchaus ihre Wirkung entfalten.
Grafik: veloviewer.com
Die Favoriten
Es sind die Klassikerfahrer, die Punchuere unter den Spezialisten für diese Art Eintagesrennen. Wer bei Rennen wie der Flandern-Rundfahrt vorn mitmischen kann, zählt auch bei diesem Rennen zum Kreis der Favoriten. Mathieu van der Poel, Wout van Art, Mads Pedersen … es sind einige starke Klassikerspezialisten am Start. Eine Rolle kann aber auch das Team spielen. Denn beispielsweise hat die BDR-Auswahl nur sechs Fahrer im Rennen, während Frankreich, Italien, Niederlande, Dänemark, Großbritannien und Spanien zwei Fahrer mehr am Start haben.
Zu den großen Favoriten zählen die Belgier. Neben Wout van Aert haben sie Titelverteidiger Remco Evenepoel im Rennen. Und dazu ein sehr starkes Team mit Klassikerspezialisten und Rouleuren. Doch sie müssen taktisch clever agieren, dürfen sich keine teaminternen Duelle um die Kapitänsrolle leisten, wollen sie erneut den Titel holen.
Die niederländische Mannschaft ist nicht ganz so stark, aber mit Mathieu van der Poel haben sie einen der absoluten Top-Favoriten am Start. Auf ihn wird die Taktik ausgelegt sein und der Crossweltmeister will das nächste Regenbogen-Trikot einfahren. Sollte sich bereits einige Runden vor dem Ende eine Gruppe mit starken Fahrern wegschleichen, darf Van der Poel diese wohl nicht verpassen.
Evenepoel ist auf diesem Kurs vielleicht nicht der Top-Favorit, denn längere Anstiege liegen ihm mehr, doch er kann an vielen Stellen auf der Runde angreifen und gerät schnell außer Sicht. Ist er einmal enteilt, wird es für die Konkurrenz schwer, ihn zurückzuholen. Das bringt einige Teams vielleicht auf die Idee, vor dem Belgier anzugreifen, um einen Vorsprung zu haben, wenn dieser dann später aufschließt. Das französische Team hat einige starke Fahrer, kann sehr offensiv agieren. Doch alle Mannschaften beschäftigen sich mit der Konkurrenz und möglichen Szenarien, so wird es nicht einfach, auf dem Stadtkurs eine Gruppe zu initiieren, die das eigene Team stark bevorteilt.
***** Mathieu van der Poel
**** Remco Evenepoel
*** Wout van Aert, Tadej Pogacar
** Mads Pedersen, Jasper Philipsen, Alberto Bettiol
* Asgreen, Laporte, Madouas, Kwiatkowski, van Baarle, Alaphilippe, Trentin, Benoot, Hirschi
Start: 9:30 Uhr (Ortszeit)
Ziel: ~ 16:45 Uhr (Ortszeit)
Die Startliste
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