Sepp Kuss – ein verdienter Sieg, ohne Beigeschmack
Vor der Vuelta zählte er zu den Außenseitern, nun ist Sepp Kuss Vueltasieger. Er wurde als Außenseitertipp gehandelt, weil sein Team zwei Kapitäne dabei hatte, er selbst als Helfer geplant war. Oder besser gesagt, als Helfer ins Rennen ging, mit der Option vielleicht ein taktisches Mittel zu sein. So kam es am Ende auch. Die Leistungsfähigkeit des Sepp Kuss ist bekannt. Sein Team hatte schon vor Jahren damit geliebäugelt, den US-Amerikaner vielleicht in Zukunft mal als Kapitän einzusetzen. Doch Kuss ist nicht der geborene Leader. Er ist der beste Berg-Helfer der Welt – hat eine extrem wichtige Rolle im Team, aber nicht die eines Leaders.
Kuss hat den Vueltasieg verdient, auch wenn ihn Jonas Vingegaard vielleicht hätte aus dem Trikot fahren können. Denn Kuss war stets souverän, lieferte ein starkes Rennen und hatte die Konkurrenz aus anderen Teams im Griff. Zudem war er taktisch stets loyal. Wäre Jonas Vingegaard am Tourmalet nicht voraus gewesen, hätte Kuss vielleicht eher attackieren können und die Lücke schließen können. Dann wäre sein Vorsprung auf Vingegaard gar nicht um 30 Sekunden geschmolzen, an diesem Tag.
Hätte, wenn und aber spielen keine Rolle – Sepp Kuss hat für Jumbo-Visma den Vueltasieg eingefahren, nachdem er bereits beim Giro und der Tour de France seine Kapitäne zum Sieg fuhr. Hätten Roglic und Vingegaard auch ohne Kuss die Rundfahrten gewonnen? Vielleicht, aber es wäre deutlich schwerer gewesen. Radsport ist ein Teamsport, bei dem der Kapitän – außer im Zeitfahren – auf seine Helfer angewiesen ist. Loyalität der Helfer ist ein Schlüssel zum Erfolg – diese kann man mit Geld und Geschenken sichern, aber auch mit einer anderen Form von Anerkennung. Nicht selten machen Profis großzügige Geschenke, etwa teure Uhren an alle Teamkollegen nach großen Siegen. Doch im Vergleich zu einer weiteren Rolex ist die Chance, selbst Leader zu sein, viel wertvoller.
Nahezu alle Profis waren in den Nachwuchsklassen Siegfahrer. Sie mussten sich durchsetzen, um überhaupt Profi zu werden. Doch im Pool der allergrößten Talente der vergangenen 10-15 Jahrgänge ist die Luft dünn. Viele Sportler müssen sich mit der Helferrolle abfinden. Doch auch sie streben nach Erfolg, hoffen auf ihre Chance. Bekommen sie diese von den Kapitänen eingeräumt, zerreißen sie sich um so mehr für sie im Anschluss. Seine Rolle war Kuss stets klar, sie ist im Arbeitsvertrag fixiert und er übt seinen Job aus. Doch er ist auch Sportler, hat seine Jugend für den Sport gelebt und will siegen. Wie viel ein Sieg bedeuten kann, zeigt sich immer wieder, wenn Helfer ihren großen Moment erleben – Simon Geschke ist nur eines der vielen Beispiele.
Der Vueltasieg von Sepp Kuss ist ein Stück weit auch die Anerkennung für seine jahrelange harte Arbeit für das Team. Er war bei der Vuelta „Helfer mit der Option 3. Leader“ zu sein, wenn es taktisch nötig wird. Er hat diese Rolle ausgeführt und bekommt nun eine immense Anerkennung, am Ende auch von seinem Team und den anderen Kapitänen. Der Helfer darf endlich auch gewinnen – die Geschichte ist schön, und Radsport ist Entertainment. Kein Wunder, dass viele Berufskollegen, Ex-Profis und Experten in ihm den best möglichen Sieger dieser Vuelta sehen.
Der Beste soll gewinnen?
Eines der oft angeführten Argumente, warum Roglic und Vingegaard hätten Kuss angreifen können/sollen, war die These, dass der Beste gewinnen soll. Das mag die Perspektive der Fans sein, ist aber nicht der Kern des Radsports. Jede Mannschaft will gewinnen, am liebsten jedes Rennen. Sie versuchen, die Kollegen ideal einzusetzen, eine Taktik anzuwenden, um das Maximum herauszuholen. Bei der Flandern-Rundfahrt geht nicht das Team EF Education Easy Post an den Start, um sich hinter Mathieu van der Poel, Wout van Aert und Tadej Pogacar einzureihen. Andreas Klier versucht eine Taktik auszutüfteln, die vielleicht den Überfliegern ein Bein stellt.
John Degenkolb und Mads Pedersen wollten bei Paris-Roubaix nicht genauso viel Führungsarbeit machen, wie Mathieu van der Poel und Wout van Aert. Warum? Weil sie gegen diese Kerle nur eine Chancen haben, wenn die mehr investieren. Der Beste soll gewinnen? Nein – es geht um den Sieg!
Nun, das ist bei drei Fahrern einer Mannschaft etwas anders gelagert. Doch auch da folgt die gesamte Taktik einem übergeordneten Ziel – dem Sieg! Sepp Kuss kam ins Rote Trikot, weil er als taktisches Mittel eingesetzt wurde, um Remco Evenepoel Druck zu machen. Das erübrigte sich nach dessen Einbruch. Doch der Plan, den Jumbo-Visma verfolgt, ist auf den Sieg ausgerichtet.
Einige der bedeutungsvollen GrandTour-Erfolge holte man aufgrund der starken Mannschaft, nicht weil der Kapitän der beste Fahrer im Rennen war.