Die Liste der Fahrer und Mitarbeiter, die das Team DSM-firmenich in der Vergangenheit unzufrieden verlassen haben, ist lang. Einige Fahrer sogar trotz gültigem Vertrag – Warren Barguil, Tom Dumoulin, Ilan van Wilder, Marc Hirschi, Marcel Kittel, Michael Matthews, Tiesj Benoot, Harm Vanhoucke. Nun verlässt auch Talent Marco Brenner das Team, den man direkt nach den Junioren zu DSM holte, mit einem gut dotierten Vertrag ausstattete und die bestmögliche Entwicklungschance bieten wollte. Gemeinsam hatte man eine lange und erfolgreiche Zusammenarbeit angestrebt, passt nun aber offensichtlich nicht mehr zusammen. Für Aufsehen sorgte Brenner mit einem Interview der Augsburger Allgemeinen, in dem er die Teamleitung kritisierte.

Es scheint beim niederländischen Männer-Team eine Art „Ablaufdatum für die erfolgreiche Zusammenarbeit“ zu geben – vor etwa drei Jahren entstand beim CyclingMagazine ein Artikel mit genau dieser Überschrift. Wie kann es sein, stellt man sich die Frage. In der Wahrnehmung vieler Fans und Journalisten hat das Team einen übertriebenen Kontrollwahn und eine unflexible Führung. Wie das Team wahrgenommen wird, ist das Resultat der Geschichten hinter den Abgängen. Die insgesamt schwache Kommunikation der Mannschaft festigt dieses Bild. Das Image des Teams ist miserabel, um es aufzupolieren lud man kritische Medien ins Trainingslager ein oder bot Interviews mit der Teamleitung an. Vergebliches Bemühen. Es ist ein Bild entstanden, das mit jedem neuen vorzeitigen Abgang gefestigt wird.

Was steckt hinter den Problemen bei DSM-firmenich?

In der breiten Öffentlichkeit sorgen hauptsächlich die Fahrerwechsel für Aufsehen. Dass es nun im Falle von Marco Brenner um verwendete Einlegesohlen und „eigenmächtige Änderungen an der Sitzposition“ geht, wirkt von außen amüsant und schwer nachvollziehbar. Das eigentliche Problem des Teams scheint tiefer zu liegen. Im vergangenen Jahr kündigten erheblich Teile des Personals. Einige fühlten sich wenig wertgeschätzt, gaben an, mit ihrer Arbeit kaum Einfluss auf die Leistung des Teams zu haben und bemängelten die Kommunikation. Personalwechsel bei Radteams ist nichts ungewöhnliches, doch beim niederländischen Team verlassen seit Jahren immer wieder Eckpfeiler des früheren Erfolgs die Mannschaft. Sportliche Leiter, Trainer, auch wichtige Personen anderer Bereiche.

Bereits im Jahr 2019 schrieben wir beim CyclingMagazine, dass die Mannschaft „im stetigen Umbruch steckenzubleiben scheint„. Insider berichten, es sei nicht besser geworden. Eher im Gegenteil. Schon vor Jahren bestätigten ehemalige Teammitglieder, dass konträre Meinungen nicht wertgeschätzt werden. Andere Ansichten werden nicht als Input und Grundlage für fruchtbare Diskussionen und Denkanstöße gesehen, sondern als störend empfunden. Es gibt eine klare Richtung, dieser soll gefolgt werden, sonst passt man eben nicht dazu. Was könnte die Grundlage für ein solch kompromissloses System sein?

Ein erfolgreiches System

Man darf durchaus Respekt haben, vor der Leistung von Iwan Spekenbrink. Er hat aus einem kleinen Team eine große Mannschaft geformt, mit beeindruckenden Erfolgen. Touretappen, Monumente, Grand Tours – da gibt es nicht so viele Teams, die eine solche Bilanz vorweisen können. Was an Spekenbrink beeindruckt ist dabei nicht nur die Hingabe für seinen Job, die extreme Arbeitsintensität – es ist seine Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen die Zukunft der Mannschaft zu sichern. In der Pandemie, mit einem Tourismusunternehmen als Hauptsponsor, ein solch großes Unternehmen stabil abzusichern, ist eine starke Leistung! Das betonen auch Insider immer wieder.

Spekenbrink ist der Kopf des Teams, führt gemeinsam mit Rudi Kemna und Marloes Poelman das Unternehmen. Sie geben die Richtung vor, bestimmen die Kultur. Seit Jahren. Das Team um Spekenbrink hat sich auf die Fahnen geschrieben, sehr wissenschaftlich, fokussiert und kompromisslos zu arbeiten. An allen Schrauben wird gedreht, um mehr rauszuholen. Entscheidungen nach Bauchgefühl passen nicht, die Empathie des Personals als Leitlinie für die Sportler ist nicht vorgesehen.

In diesem Zusammenhang muss man auch die Geschichten der Fahrer sehen, die wegen Sitzpositionsänderungen und ähnlichen Dingen Probleme mit der Mannschaft bekommen. Denn die Argumentation und Strategie des Teams ist klar, dies beschrieb Iwan Spekenbrink auch gegenüber CyclingMagazine mehrfach: Sie beschäftigen bei DSM-firmenich Spezialisten für jeden Bereich – Ernährung, Training oder auch Bikefitting. Diese legen fest, wie gehandelt wird. Der Sportler soll beispielsweise nicht allein entscheiden, wie der Recoveryshake zusammengestellt ist und ob er ihn zu sich nimmt, oder nicht. Die Kompetenz ist bei den jeweiligen Experten und Spezialisten, der Fahrer folgt deren Anweisung. Jeder soll seine Fähigkeit maximal einbringen. Zumindest ist das die Theorie.

Dies kann man durchaus nachvollziehen. Doch die Vehemenz, mit der die Mannschaft diese Regeln umsetzt, wird oft als zu enges Korsett empfunden. Füllt ein Fahrer nicht in der angegebenen Zeit das Protokoll für sein Training aus, bekommt er einen Rüffel. Alles ist beim niederländischen Team dem Erfolg untergeordnet, bei vielen Fahrern scheint das Konzept durchaus zu funktionieren – oft aber eben nur auf Zeit.

Wenig verwunderlich, dass dann immer wieder Sprüche und Scherze über die vielen DSM-Protokolle im Peloton, bei Fans und Medien die Runde machen.

Anspruch und Wirklichkeit

Das Team ist mittlerweile ein mittelgroßes Unternehmen, mit Top-Service Course, Nachwuchsakademie „Keep Challenging Center“ und vielen Mitarbeitern. Mit allen Mitteln wird versucht, zu professionalisieren und über wissenschaftliche Strukturen für mehr Erfolg zu sorgen. Doch wer sehr strikt an den Prinzipien festhält, von den Fahrern 100% Commitment verlangt, muss das auch selbst vorleben. Da passt es dann nicht zusammen, dass Material zu spät eintrifft, Fahrer ohne Fitting im Traininsglager auf das neue Rad steigen und dann Probleme bekommen. Zudem fühlen sich auch nicht alle Sportler medizinisch optimal betreut. Das ist sicher bei nahezu allen Mannschaften der Fall – Fahrer beschweren sich, wenn es nicht läuft. Doch beim Team DSM-firmenich gleichen sich die Geschichten der Sportler, die unzufrieden die Mannschaft verlassen. Seit Jahren. Dazu kam zuletzt immer mehr unzufriedenes Personal.

Geringe Wertschätzung, keine Diskussionskultur, schlechter Informationsfluss – die Kritikpunkte der ehemaligen Mitarbeiter gleichen sich. Man will bei DSM-firmenich alles kategorisieren, alles soll dem übergeordneten Ziel untergeordnet werden – Individualisierung passt nicht dazu. Auf der anderen Seite werden dann die Fahrer nicht alle gleich behandelt, so berichten es Ex-Teammitglieder. Top-Fahrer genießen Privilegien, das passt für andere im Team dann nicht zum Gesamtkonzept.

Doch es gibt Sportler, die sich mit dem „System DSM-firmenich“ arrangieren können. So ist es der Mannschaft beispielsweise gelungen, John Degenkolb zurückzuholen. Ganz bewusst hat sich der Routinier dazu entschieden, die jungen, hochtalentierten Fahrer in der Mannschaft zu leiten. Ob Marco Brenner, Pavel Bittner oder Niklas Märkl – Degenkolb gibt seine Erfahrung weiter, hat sich ins Team integriert und empfindet offenbar kein „zu enges Korsett„. Nun kehrt auch Warren Barguil zurück zum Team von Iwan Spekenbrink. Der Franzose hatte seine erfolgreichste Zeit beim niederländischen Team und dürfte genau wissen, worauf er sich einlässt, wenn zurückkehrt. Es scheint also nicht eine grundsätzliche Frage des Charakters zu sein, ob man in die Mannschaft passt – sondern es hängt von vielen Dingen ab, ob man sich „arrangieren kann“, oder nicht. Barguil wurde 2017 aus der Vuelta genommen, nachdem er sich nicht in den Dienst des Teams stellen wollte und Anweisungen ignorierte. Er ging anschließend vor Ende seines Vertrags.

Kommunikation – ein kompliziertes Thema

In vielen vertraulichen Gesprächen mit ehemaligen Teammitgliedern taucht immer wieder das Thema Kommunikation als Kritikpunkt auf. Entscheidungen können nicht nachvollzogen werden, weil nicht ausreichend kommuniziert wird, so der Eindruck nach vielen Gesprächen.

Hat sich die Teamleitung zu sehr abgekapselt vom Rest der Mannschaft? Schwer einzuschätzen, von außen. Kommunikation ist in jedem Fall ein besonderes Thema im Team. Das geht schon beim Konstrukt in der Betreuung der Sportler los. Es wird bei DSM-firmenich zwischen Coach und Trainer unterschieden. Dabei ist für den Trainer, abgesehen vom reinen Austausch über das Traningsprogramm, kaum Kommunikations-Kontakt mit dem Sportler vorgesehen. Alle Themen werden über den Coach ins Performance-Team übermittelt, dann Rennprogramm und andere Themen abgestimmt. Da zwischen Trainer und Sportler aber oft eine engere Beziehung entsteht, gibt es bei Sportlern eine Tendenz, auch andere Dinge mit dem Trainer zu besprechen – nachvollziehbar. Zumal Sportler und ihr Training von Familie, Freunden und ihrem ganzen sozialen Umfeld beeinflusst werden. Heute etwas weniger trainieren, weil die Feier in der Kita ist, oder man gern gemeinsam mit der Freundin das neue Gästebett aussuchen will, morgen vielleicht mehr trainieren, weil man das Gefühl hat, aufholen zu müssen und sich Selbstvertrauen holen will … es sind viele Dinge vorstellbar, im Trainingsalltag eines Radprofis.

In jeder Mannschaft ist es eine Herausforderung, sämtliche Kommunikationsabläufe optimal zu gestalten, um die maximale Leistung herzuholen. Zu 100% gelingt das wohl in keinem Team. Der extrem strikte Ansatz beim Team DSM-firmenich scheint zumindest vielen Sportlern und Mitarbeitern Probleme zu bereiten.

Einer übergeordneten Vision zu folgen, sich vollends einzubringen setzt voraus, dass man nachvollziehen kann, warum Entscheidungen getroffen werden. Doch genau dort scheint es ein Problem zu geben. Ehemalige Mitarbeiter berichten, dass Entscheidungen nicht argumentativ erklärt werden können. Vielmehr herrschte der Eindruck vor, dass hinter einigen Entscheidungen zu wenig Expertise steckt. Zudem hat man als Team zuletzt in einigen Bereichen nicht mehr standhalten können, wo man früher zu den Top-Teams gehörte – wohl auch in Sachen Technik, Aerotest etc. – wo man früher selbsterklärt Weltspitze war.

Zukunftsfragen

Das Team von Iwan Spekenbrink hat eine ganz eigene Philosophie. Man hat eine klare Vorstellung von Teamführung, die vor allem auf Struktur und Stringenz setzt. Vielleicht gibt es kein anderes Team im Profiradsport, das so sehr wie ein klassisches Industrie-Unternehmen controllt & gemanagt wird. Die selbst geschaffene Infrastruktur (inklusive Nachwuchsteam) bietet eine sehr gute Voraussetzung – man kann so immer wieder junge Talente überzeugen und verpflichten. Offenbar, so berichten es Insider, bleiben aber Empathie und Kommunikation auf der Strecke. Das Führungsteam gibt die Richtung vor, trifft Entscheidungen, die manchmal schwer nachzuvollziehen sind. Vermutlich, so die Erkenntnis nach vielen Gesprächen, spielt hier die mangelnde Kommunikation eine große Rolle.

Irritation bei den Mitarbeitern erzeugt beispielsweise auch das Thema „Entwicklungsprozesse von Sportlern“. Über Jahre wird ein Fahrer aufgebaut, dann scheinbar voreilig aussortiert. Wie beispielsweise Michael Storer, dessen Talent früh erkannt wurde, der im eigenen „Keep Challenging Center“ lebte und sich nach und nach entwickelte, ehe er tatsächlich auf World-Tour-Level Erfolge einfuhr – dann ließ man ihn gehen. Storer scheint dabei nur ein Beispiel zu sein, warum bezüglich „strategische Fahrer-Entwicklung“ Teile des Personals und auch Kollegen manchmal ratlos sind und die Entscheidungen der Teamleitung hinterfragen. An diesem Punkt setzte dann auch wieder das Therma „Kommunikation“ an.

Die Frage ist: Wie zukunftsfähig kann ein solches System sein, im modernen Radsport, der immer komplexer wird?

Können weiter große Talente an das Team gebunden werden, wird man weiter erfolgreich sein. Dann wird es aber wohl auch weiter Fälle wie Marco Brenner geben, die ausbrechen, das Team verlassen. Wird es in naher Zukunft jedoch immer schwerer, Top-Personal, Trainer und Fahrer zu binden, muss sich an der Kultur des Teams etwas ändern, um weiter ganz vorn mitzumischen.

Das Team DSM-firmenich steht nicht allein da, mit Problemen. Auch andere Mannschaften geraten in Schwierigkeiten, nachdem sie in die Weltspitze vorgestoßen sind. Radsport ist komplex, dazu ein Sport, der nur Erfolg verspricht, wenn kompromisslos an allen Rädchen gedreht und professionell agiert wird. Auf der anderen Seite sind es Menschen, die dafür sorgen, dass ein Team erfolgreich ist. Menschen, mit Ängsten, Problemen und Erwartungen.

Ein im Sport häufig genutzter Spruch ist: Erfolg gibt Recht. Siege sind die besten Argumente für das eigene Radsport-Konzept, lassen Kritiker verstummen. Bleiben diese jedoch aus, wird schnell auch das System in Frage gestellt. Die Zukunft wird zeigen, wohin der Weg des Team DSM-firmenich führt.