Fans und Journalisten rieben sich die Augen, als UAE Team Emirates schon Anfang Dezember bei den Media Days nicht nur die Kapitäne und den einen oder anderen wichtigen Helfer für die Grand Tours vorstellte, sondern gleich die gesamten Roster für Giro und Tour präsentierten. Es ist selten, dass die ersten acht Fahrer mehr als ein halbes Jahr vor dem eigentlichen Event – wie im Falle der Tour – bekannt gegeben wurden.

Nur wenige Tage später zog Visma | Lease a Bike nach – allerdings auf eine bemerkenswerte Weise. Natürlich war schon lange bekannt, dass Jonas Vingegaard seinen Tour de France-Titel verteidigen wollen würde. Und auch dass Wout van Art eine Teilnahme beim Giro anstrebt. Aber auch Jumbo nominierte während der Teampräsentation den gesamten Tour-Kader und gab auch schon die Fahrer in den Schlüsselpositionen bei Giro und Vuelta bekannt. Die Art und Weise, wie sie dies taten und auch in den nachfolgenden Tagen und Wochen ihre Roster im Falle des Giros komplettierten, wirft jedoch Fragen auf. Doch der Reihe nach – vor dem Giro ist ja immerhin Klassiker-Zeit und hier kann man auch ganz kurz durchspielen, was das Team vorhat, beziehungsweise wer wo fahren wird.


Frühjahrsklassiker: ein Pflaster-Monument muss her

Wout van Aert ordnet 2024 alles den großen Pflaster-Klassikern unter. Ein Monument muss endlich her – ob die Ronde oder Roubaix ist egal. Dafür fuhr er die Cyclocross-Rennen aus dem Training heraus, lässt die Cross-WM aus, verzichtet auf Mailand-Sanremo sowie Strade Bianche – beides Rennen, die er bereits gewonnen hat. Der Belgier bereitet sich über Omloop, Kuurne-Brüssel-Kuurne, E3 und Gent-Wevelgem auf die beiden Highlights vor. Selbst erklärte er, dass er trotz des Verlustes Nathan Van Hooydoncks die Klassiker-Equipe als noch stärker einschätzt als in den Vorjahren.

Neben Christophe Laporte, der die beiden italienische Rennen (Strade Bianche & Mailand-Sanremo) bestreiten soll und bei der Classicisma mit Olav Kooij eine Außenseiter Chance hat, setzt van Aert auf Neuzugang Matteo Jorgenson. Die Vorbereitung des US-Amerikaners, der von Movistar kam, verläuft bis dahin allerdings etwas anders. Er startet bei Paris-Nizza und hat mit einer Teilnahme am E3-Preis nur einen Frühjahrsklassiker als „Vorbereitung“ aufs Double. Dafür fährt Tiesj Benoot die komplette flandrische Kampagne, lässt Roubaix aus, und steht bei den Ardennen-Klassikern wieder am Start.
Youngster Per Strand Hagenes wird in Flandern ebenfalls mit von der Partie sein. 2023 bestritt der Norweger als Devo-Fahrer bereits Kuurne– Bruxelles–Kuurne und schlug im Herbst den Arrivierten beim Münsterland Giro ein Schnippchen, als er überraschend gewann.

Einer der selbst auch Chancen auf den Sieg in Flandern und Roubaix hat, ist Dylan van Baarle. Um den Roubaix-Sieger von 2022 war es zuletzt sehr ruhig geworden, doch er ist auf dem Terrain eine sichere Bank und hat auch selbst, wie er neulich in einem Podcast sagte, ein Auge auf die Flandern-Rundfahrt geworfen.


Giro d’Italia: Was wird aus Wout?

Die Aufstellung und die Aussage aller Beteiligten zum Giro d‘Italia geben ein wenig Rätsel auf. Im Herbst vergangenen Jahres meldete sich Wout van Aert aus Kolumbien zu Wort und teilte mit, er werde den Giro fahren und die Tour auslassen, um sich so besser auf die Olympischen Spiele vorbereiten zu können. Vom Team kam nichts – außer der Aussage, man würde bei der Teampräsentation im Dezember die Ziele für 2024 bekanntgeben.

Bis dahin gab es Spekulationen über die Rolle von Van Aert. Zuerst wurde seine Aussage dahingehend unwidersprochen interpretiert, er würde auf Gesamtklassement fahren wollen. Durchaus eine Option, zumal die ersten beiden Wochen nicht so brutal schwer werden und die beiden Zeitfahren einem Watt-Monster wie van Aert entgegenkommen. Je näher die Teampräsentation und der spektakuläre Uijtdebroeks-Wechsel kam (in der Retrospektive betrachtet), desto stärker mehrten sich die Spekulationen, dass van Aert in Italien „lediglich“ auf Etappensieg fahren würde.
Bei der Teampräsentation dann die Gewissheit. Wout geht auf Etappen, genauso wie Top-Sprinter Olav Kooij, der seine erste Grand Tour bestreitet, und Neuzugang Cian Uijtdebroeks. So weit so gut. Allerdings nur kurz.

Denn Uijtdebroeks, der als Profi noch kein Rennen gewonnen hat, betonte, er wolle auch aufs GC gehen. Zu Beginn vorsichtig verpackt in ein „mal sehen, was möglich ist“, kurze Zeit später aber immer selbstbewusster. Und nur wenige Tage später komplettierte sich der Giro-Kader mit starken Bergfahrern und -helfern wie Wilco Kelderman, Robert Gesink und Jan Tratnik sowie dem Baby-Giro-Sieger Johannes Staune-Mittet und Powerhorse Eduardo Affini. So sieht kein Team aus, das nur auf Etappensiege beim Giro gehen will. Da hätte man dann eher Koen Bouwman mitnehmen können. Der 30 Jahre alte Niederländer, war seit 2018 bei der Italien-Rundfahrt am Start, gewann 2022 dort zwei Etappen und holte sich in dem Jahr auch das Bergtrikot.

Und wenn man schon einen Fahrer fürs Klassement mitnehmen möchte, so hätte die Nominierung der Ungar Attila Valter verdient. Er fuhr als Helfer nicht nur eine starke Vuelta, sondern war auch an den Erfolgen seiner beiden Kapitäne Roglic und Vingegaard beteiligt und entwickelte sich in seinem ersten Jahr in der niederländischen Equipe weiter. Nur nebenbei: Er tauchte im Grand Tours-Kontext kommunikativ bei Visma | Lease a Bike bislang überhaupt nicht auf. In italienischen Medien wird inzwischen spekuliert, dass Valter doch als Co-Kapitän zum Giro fahren könnte.

Wenn man berücksichtigt, dass das Teammanagement ja frühestens am 1. Dezember zu Cian Uijtdebroeks Kontakt hätte aufnehmen dürfen, dann bleibt bei einem solch durchstrukturierte Team wie es die Niederländer sind, und das ja lange im Voraus die Saison 2024 via Masterplan durchgeplant hat, ein „Gschmäckle“ zurück.

Was bleibt jetzt aber für Wout van Aert? Der eine, Kooij, will so viele Flachetappen wie möglich gewinnen. Der andere, Uijtdebroeks, wird seine zweite große Landes-Rundfahrt bestreiten und will eine gute Platzierung im GC erzielen. Wout wird für Kooij die Sprints anfahren müssen – das kam schon bei der Präsentation zur Sprache. Und soll er auch Uijtdebroeks in den Berg fahren? Das wurde so nicht besprochen, doch es könnte darauf hinauslaufen, schaut man sich die Rolle von van Aert bei den bisherigen Grand Tours an. Ohne Kooij könnte van Aert dagegen aufs Maglia Ciclamino gehen und hätte gute Chancen, es zu gewinnen. So aber wird er bei den Flachetappen wichtige Punkte „abschenken“ müssen.

Die Personalie mit den beiden Youngstern ist dabei nicht ohne Risiko. Kooij bestreitet seine erste Grand Tour. Wetten werden angenommen, ob er den Giro zu Ende fährt. Für Uijtdebroeks wird nach seiner Vorgeschichte alles, was am Ende schlechter als Rang sieben ist, ein Misserfolg sein. Vielleicht hat Head of Performance und Mastermind Merijn Zeeman deshalb Wilco Kelderman als „Joker“ nominiert. Denn Wilco kann GC und auch Zeitfahren. Schließlich war er 2020 Dritter beim Giro, und 2021 Fünfter bei der Tour.

Giro d’Italia – das vorläufige Aufgebot
Wout van Aert
Olav Kooij
Cian Uijtdebroeks
Wilco Kelderman
Robert Gesink
Eduardo Affini
Johannes Staune-Mittet
Jan Tratnik



Tour de France: Zu wenig starke Berghelfer?

Die Ausrichtung bei der Tour de France mit Jonas Vingegaard als alleinige Spitze ist nach den beiden Siegen des Dänen keine Überraschung. Natürlich musste das Teammanagement nach dem tragischen Karriereende von Nathan Van Hooydonck und dem Wegbleiben von Wout van Aert umstellen. Gerade der temporäre Verlust von WvA sowohl bei den Klassiker-Etappen zu Beginn der Tour in Italien, dem Gravel-Abschnitt, aber auch seiner Klasse in den Bergen wiegt schwer.

Neuzugang Matteo Jorgenson kann sowohl auf den Klassiker-Etappen als auch am Berg helfen. Jan Tratnik ist ein erfahrener starker Bergfahrer, der nicht kaputt geht und sich für nichts zu schade ist, was er zuletzt bei der Vuelta wieder bewies.

Allerdings findet sich im Roster ein Fahrer wie Steven Kruijswiik, der zwar physisch ein unglaublicher Renner ist, aber nicht immer so „sattelfest“ wirkt. Bei seinen fünf letzten Grand Tour-Teilnahmen erreichte er nur einmal das Ziel der 21. Etappe. Wilco Kelderman wäre hier mehr als nur eine Option, der ist aber für den Giro geplant. Der Niederländer hängte 2023 die stärksten Kletterer ab, als er bei der Tour Etappe nach Cauterets-Cambasque hoch zum Tourmalet in La Mongie das Tempo verschärfte.

Gerade bei der unglaublich brutalen letzten Woche muss die Frage erlaubt sein, warum Christophe Laporte und Tiesj Benoot im Aufgebot stehen. Ohne Frage starke Fahrer, aber für das Team ist alles andere als ein erneuter Tour-Sieg eine Niederlage. Reicht da nicht einer von beiden und an Stelle des anderen ein Fahrer wie Kelderman oder auch Attila Valter? Valter hat sich bei Visma | Lease a Bike entwickelt, ist stark am Berg und auch in der Lage auf Schotterpisten wie der 9. Etappe rund um Troyes seinen Kapitän zu beschützen. Valter wurde bei Strade Bianche in den vergangenen beiden Jahren Vierter und Fünfter!

In Anbetracht der Tatsache, dass UAE Team Emirates gleich mit mehreren Co-Kapitänen ins Rennen geht, scheint Sepp Kuss, so stark er auch ist, am letzten Anstieg wohl der einzige Helfer seines Kapitäns zu sein.

Tour de France – das vorläufige Aufgebot
Jonas Vingegaard
Sepp Kuss
Tiesj Benoot
Matteo Jorgenson
Steven Kruiswijk
Jan Tratnik
Dylan van Baarle
Christophe Laporte


Vuelta a Espana: der stärkste Kader aller Grand Tours

Auch wenn im Hinblick auf die Spanien-Rundfahrt wenig spruchreif ist, außer dass Ben Tulett seinen Grand Tour-Einstand geben und Robert Gesink dort seinen Karriereende feiern will, so könnte das Aufgebot das stärkste der Saison sein. Denn Sepp Kuss wird als Sieger von 2023 wohl am Start stehen. Je nachdem wie die Tour verläuft, könnte auch mit Vingegaard und Kuss zu rechnen sein. Auch Wout van Aert will sich via Spanien auf die Weltmeisterschaft vorbereiten. Kommen jetzt noch ein wiedererstarkter Giro-Teilnehmer wie Kelderman hinzu und ein kletterstarker Youngster, könnte ein gelb-schwarzer Zug mit einer roten Applikation die Berge der Vuelta „hinaufzuckeln“.