„Ich habe unglaublich viel Motivation aus dem Rennen 2023 mitgenommen“, sagt John Degenkolb im Teamhotel in Flandern einige Tage vor Paris-Roubaix. Er macht die Augen groß und schiebt mit Überzeugung: „Auf jeden Fall!“.

Paris-Roubaix ist sein Rennen. Bei seinem ersten Start in der „Hölle des Nordens“ entflammte die Liebe. Im Jahr 2015 holte er sich dann seinen Stein. Danach gelang ihm auf dem Pavé Nordfrankreichs zwar ein prestigeträchtiger Tour-De-France-Etappensieg, aber bei Paris-Roubaix kein Top-Ergebnis mehr – bis 2023.

Im vergangenen Jahr war er das erste Mal seit einiger Zeit wieder ganz vorn dabei, fuhr gegen Mathieu van der Poel, Wout van Aert und Jasper Philipsen um den Sieg. Ins letzte schwere Pflasterstück ging er an der Spitze des Rennens, dann kam es zu einem Rennunfall mit Van der Poel und Degenkolb stürzte schwer. Er rappelte sich, wartete aufs Teamfahrzeug, wechselte die zerstörte Maschine und fuhr ins Ziel. Als Siebter drehte er allein seine Runde im Velodrom – unter stehenden Ovationen der Fans.

„Es ist abgehakt, was dort im Finale passiert ist. Es beschäftigt mich nicht mehr und es ist auch nichts Negatives übrig geblieben„, sagt Degenkolb ruhig. „In den ersten Tagen und Wochen habe ich mir das Rennen schon nochmal angeschaut. Jetzt nicht die ganzen sechs Stunden, aber ausschnittsweise“, sagt Degenkolb und lacht. Er ist stolz auf seine Leistung, sie motiviert ihn für dieses Jahr.

„Ich habe aufs Neue gesehen, dass an einem Tag, wenn alles passt, alle Zahnräder ineinander greifen, ich noch immer das Potenzial habe, mich dort ganz vorn zu zeigen. Das ist ein großer Ansporn, dort dieses Jahr wieder anzugreifen und ins Ziel zu kommen“, sagt Degenkolb.

Dass er 2023 bei Paris-Roubaix ums Podium mitfahren konnte, war ihm vor dem Rennen nicht 100%ig klar. „Ich hatte schon einen positiven Trend gesehen, wusste, dass die Form gut ist und ich nicht einer der Schlechtesten bin. Aber dass ich so gut bin, dass ich im Sektor Haveluy direkt bei Wout van Aert am Rad sein kann, wenn er losfährt, dann dort folgen kann – das hatte ich vorher nicht so erwartet, das muss ich ehrlich sagen“. Paris-Roubaix setzt bei ihm zusätzlich Kräfte frei, aber Degenkolb profitiert dort auch enorm von seiner Erfahrung.

„Dieses Rennen ist so speziell. Ich glaube, in keinem anderen Rennen kann man sich mit Taktik, Erfahrung und auch Übersicht einen so großen Vorteil verschaffen, wie bei Paris-Roubaix. Du hast alle paar Kilometer wieder eine Schlüsselstelle, musst vorn sein, vorher schon wach, und dich richtig positionieren. Wenn du das nicht tust, verlierst du so viel mehr Kraft.

Dieses Rennen hat so viele Marker, so viele Schlüsselstellen, wenn du die immer triffst, bringt das extrem viel. Du darfst nie ins Hintertreffen geraten, musst von Anfang an hellwach sein und einfach jeden dieser Marker treffen. Nur dann wirst du hinten raus im Rennen immer besser, im Vergleich zur Konkurrenz“, erklärt Degenkolb.

Auf die Nachfrage, wie man das denn macht, wenn das halbe Feld die gleichen Absichten hat, macht sich ein breites Grinsen in Degenkolbs Gesicht breit. „Naja, von Anfang an voll da sein, hellwach und konzentriert. Und natürlich darfst du nicht schauen, wer da rechts und links von dir ist. Positionsfahren ist dort so wichtig, dass man sich durchsetzen MUSS. Aber du brauchst immer auch die Beine dafür, dich in diese Postionen zu bringen“.

„So ganz genau weiß ich nicht, was ich erwarten kann. Meine Leistungswerte sind gut, aber wie hoch das Niveau ist, kann jeder sehen. Aber Paris-Roubaix ist ein ganz anderes Rennen, man weiß nie was passiert und es lässt sich auch nicht mit einer Ronde oder Gent-Wevelgem vergleichen. Ich will mein Bestes geben und unbedingt das Ziel erreichen.

Dieses Rennen bedeutet mir so viel. Es ist eine unglaubliche Ehre, dass dort ein Pflasterstück meinen Namen trägt. Dort drüber zu fahren, gibt mir brutal Gänsehaut. Im vergangenen Jahr bin ich als Erster auf das Pflaster, das wollte ich unbedingt und meine Familie und Freunde standen dort. Solch Moment erleben zu dürfen, ist ein großes Privileg.“

Die Beziehung zum Rennen, dem Verein Les Amis de Paris-Roubaix, die das historische Pflaster pflegen, auch dem kleinen Örtchen Hornaing und dessen Radclub, ist durch Degenkolbs Engagement für das Juniorenrennen sehr eng geworden. In jedem Jahr gibt es für den Deutschen einen kleinen Empfang im Clubhaus in Roubaix nach dem Rennen. Degenkolb hatte das Juniorenrennen gerettet, als es wegen finanzieller Schwieirigkeiten vor dem Aus stand. Es fehlten damals für die Austragung 2019 rund 10.000 €. Degenkolb nahm Kontakt auf und sagte direkt zu, die Lücke zu stopfen. In einer von ihm ins Leben gerufenen Crowdfundig Aktion kamen in kurzer Zeit sogar 17.000 € zusammen. Der Überschuss ging an den Verein, der das historische Pflaster pflegt. Was dem Verein und den Fans die Aktion des Roubaix-Siegers von 2015 bedeutete, ist jedes Jahr wieder zu spüren. Dass ihm später sogar ein Pflasterstück gewidmet wurde, ein Ausdruck dessen.


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Die Tragik des Finales von 2023 hat Degenkolb noch mehr zum Helden der Fans gemacht. Der Rummel nach dem Rennen hatte ihn selbst sehr überrascht. „Welche Welle das geschlagen hat, auch via Social Media, das war extrem krass. Damit hätte ich niemals gerechnet. Ich habe so viele Nachrichten und positive Kommentare bekommen, das war unglaublich“ so Degenkolb.

„Ich war nach dem Rennen nur völlig kaputt und einfach extrem enttäuscht. Meine Schulter tat mächtig weh und ich brauchte ein paar Minuten, mich zu sammeln. Ich war dann dennoch in der historischen Dusche und danach auch noch bei den Les Amis de Paris-Roubaix im Clubhaus. Auf’s Telefon hab ich dann gar nicht mehr geschaut. Als ich es wieder in die Hand nahm, bin ich fast umgefallen, wie viele Nachrichten und Kommentare da waren.“

John Degenkolb nach Paris-Roubaix 2023 (Foto: © Roth&Roth / CV)

Es ist Degenkolb anzumerken, wie gut ihm die positiven Reaktionen damals getan haben, auch wenn die Enttäuschung über den Rennausgang erst nach einiger Zeit wich. „Ich hätte ums Podium fahren können. Das war ein Tag, wo alles möglich schien, bei meinem absoluten Lieblingsrennen. Solche Tage wird es nicht mehr unzählige geben, das weiß ich. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich alles reinhauen werde. Wozu es reicht, wird man sehen“, sagt Degenkolb ruhig.

Auf die Frage zum Abschluss, ob er ein konkretes Ziel für Sonntag nennen kann, kommt das Grinsen zurück. „So schnell fahren wie möglich, dann nach dem Rennen duschen und ein Bier trinken.“ Dieser Satz klingt eher nach einem Plan für eine genussvolle Sonntagsausfahrt, als dem brutalen Ritt durch die Hölle des Nordens. Aus dem Mund von John Degenkolb allerdings haben diese Worte einen besonderen Klang.

John Degenkolb im Interview nach Paris-Roubaix 2023