Das Buch "der Plan" von Nando Boers

Wie sieht es eigentlich hinter den Kulissen eines Profiteams aus? Besondere Einblicke verspricht einmal mehr die Netflix-Dokumentation zur Tour de France, die 2024 fortgesetzt wird. Für die erste Staffel gab es unter anderem von der „Neuen Zürcher Zeitung“ ein Lob, weil die Dokumentation einen Sport „im Übergang von anachronistischem Gladiatorentum zu professioneller Nüchternheit“ porträtiere. Es lässt sich prima darüber streiten, inwiefern es Netflix wirklich gelungen ist, diesen Prozess abzubilden. Wer keine schnellen Schnitte und dramatische Inszenierungen braucht, um mehr über den modernen Radsport zu erfahren, dem sei das frisch erschienene Buch „Der Plan“ (Covadonga) des niederländischen Journalisten Nando Boers sehr ans Herz gelegt.

Auf 376 Seiten zeichnet Boers anschaulich nach, wie sich das von Richard Plugge und Merijn Zeeman orchestrierte Team Jumbo-Visma zur erfolgreichsten Radsportmannschaft der Welt aufschwang. Von 2019 bis 2022 hat der Journalist die niederländische Equipe begleiten dürfen, ohne dafür vom Team bezahlt zu werden. Er hat mit Fahrern und Coaches gesprochen, aber auch mit externen Beratern vom Armeekommandanten bis zum Höhentrainingspapst. Er war bei der Tour de France genauso dabei wie bei coronabedingten Online-Meetings, in denen nicht nur über Trainingspläne diskutiert wurde. Die dramatische Niederlage von Primož Roglič 2020 in den Vogesen hat er ebenso hautnah erlebt wie die überragende Teamarbeit beim Tour-Sieg von Jonas Vingegaard zwei Jahre später. Lebensgefährliche Stürze wie den von Milan Vader hat er genauso unmittelbar verfolgt wie die anhaltende Sinnkrise von Tom Dumoulin.   

Nando Boers ist in den Niederlanden kein Unbekannter. Er schreibt regelmäßig für das renommierte Radsportmagazin „De Muur“ und hat mehrere vielbeachtete Bücher über den Radsport oder die Formel 1 verfasst. „Der Plan“ ist in den Niederlanden mit dem „Nico Scheepmaker-beker“ als bestes Sportbuch 2023 ausgezeichnet worden. 

Boers schreibt dabei nicht als Fan, sondern als interessierter Beobachter, dem es darum geht, jene Detailbesessenheit sichtbar zu machen, mit der die Mannen um Plugge und Zeeman ihr Ziel verfolgen. Der Plan, Jumbo-Visma an die Weltspitze zu führen, gleicht dabei einem dieser komplizierten Riesenpuzzle, für deren Fertigstellung schon mal Winterurlaube draufgehen können.     

Ein paar Puzzleteile gefällig? Da wären zum Beispiel: Schmerzgrenze, Ernährungsgewohnheiten, Videoanalysen, Neuro-Linguistisches Programmieren, Feedbackkultur. 

Der Reihe nach. „Kann man durch Training die Schmerzgrenze senken, damit ein Fahrer länger durchhält, bevor er aufgibt?“, lautete die Frage, die sich Marc Lamberts als Trainer von Primož Roglič und Wout van Aert gestellt hatte (Lamberts arbeitet mittlerweile im Trainerteam von Bora-hansgrohe). Lamberts wollte die Fahrer in eine Art „Tunnelblick oder Selbsthypnose“ versetzen, sodass sie knapp über der Schmerzgrenze fahren können. Als Motivationslektüre bekamen sie das Buch „How Bad Do You Want It?“ von Matt Fitzgerald („Siegen ist Kopfsache: Die mentalen Erfolgsstrategien der Ausnahme-Athleten“) – eines von mehreren Beispielen, wie sich das Team mit Know-how außerhalb des Radsports versorgte, auch die niedergeschriebene Erfolgsstory der All Blacks erfreute sich in Teamkreisen einiger Beliebtheit. Ein einfaches Mittel, mit der manche Jumbo-Fahrer ihre Schmerzgrenze erhöhen, ist übrigens die Koffeineinnahme kurz vor dem Etappenstart. 

Überhaupt wurde bei Jumbo-Visma das Verdauungssystem der Fahrer trainiert. Zur gewünschten Ernährungsweise gehörte etwa, über den Tag verteilt viele Mahlzeiten zu sich zu nehmen (bis zum Snack vor dem Schlafengehen) oder vor Bergetappen auf eine ballaststoffarme Kost umzusatteln. Mittels Foodcoach-App ließen sich individuelle Ernährungspläne steuern. So erfährt man im Buch, dass Wout van Aert vor dem Etappenstart gerne Rote-Bete-Saft trinkt, weil das enthaltene Nitrat für eine bessere Sauerstoffaufnahme in den Muskeln sorgt. Viele Sachen werden in anderen Teams ähnlich gehandhabt und auch Rote-Bete ist verbreitet im Peloton – Fahrer wie John Degenkolb hatten schon vor Jahren eine Rote-Bete-Routine vor den Rennen. Im Buch geht es darum, einen Einblick in Arbeitsweise des Teams Jumbo-Visma zu bieten, nicht Innovationen zu bewerten.

Wann und wo soll besagter Wout van Aert nun auf dieser oder jener Etappe attackieren? Bei der Frage nach der optimalen Renntaktik setzte das Team Jumbo-Visma auf die Dienste von zwei Videoanalysten, die in Anspielung auf ein bekanntes Baseball-Buch von Michael Lewis schlicht als „Moneyball Boys“ auftauchen. Grischa Niermann hatte in einem Podcast von dem datensammelnden Duo gehört, das in einer Höhle voller Bildschirme haust und Radrennen analysiert. Mit ihrer Hilfe entstanden taktische Leitdokumente und kurze Videos etwa zu Pogacars Fahrverhalten, die das Team weiter voranbringen sollten.

Externe Unterstützung in Gestalt eines NLP-Trainers nutzte die Mannschaft, als es um die Dopingvergangenheit des Vorgängers Rabobank ging. Beim Neuanfang unter dem Namen „Team Blanco“ mussten alle Fahrer und Mitarbeiter vier Fragen zum Doping beantworten – der NLP-Trainer sollte mitprüfen, inwiefern diese Antworten wahrheitsgemäß ausfielen. Zwei Beschäftigte verloren dabei ihren Job.     

Was Hierarchien und Strukturen angeht, zeichnete sich das Team durch eine durchaus bemerkenswerte Offenheit aus. Boers spricht dabei die Feedbackkultur an. Auf mehreren Ebenen wurden Reflexionsprozesse angestoßen. Selbst die Sportlichen Leiter waren angehalten, sich offen über ihre persönlichen Schwächen auszutauschen. Einerseits verfolgte Jumbo-Visma klar definierte Ziele, andererseits wollten sie keine Roboter auf Rädern trainieren, sondern Fahrer, die eigenverantwortlich handeln, sich in der Gruppe austauschen, motivieren und hinterfragen. Den Teamgeist mit Leben zu füllen, war eines der postulierten Ziele. In diesem Kontext ist auch die Rolle von Primož Roglič interessant. Er erscheint zeitweilig als Einzelgänger, der morgens zum Strandyoga aufbricht, wenn sich andere lieber einen kohlenhydrathaltigen Aufstrich aufs glutenfreie Brötchen schmieren. Beim Tour-Triumph des Teams 2022 ist er irgendwie verloren gegangen.  

Was sich hier vielleicht wie ein beliebiges Nebeneinander von einzelnen Puzzleteilen anhören mag, hat in den 50 Kapiteln des Buches eine klare Struktur. Nando Boers dröselt Theorie und Praxis des Teams chronologisch auf und vertieft dort, wo es angebracht ist. Mitunter hat das Buch ein paar Längen. Tom Dumoulins Sinnkrise wird ausführlich geschildert, was dem vornehmlich niederländischen Zielpublikum geschuldet sein mag. Doch der generelle Erkenntnisgewinn macht das allemal wett. 

Die Leserschar kann nachvollziehen, wie Jumbo-Visma über mehrere Jahre einen Plan entwirft und erfolgreich umsetzt. „Das ist Jumbo-Visma“, wird Sportdirektor Zeeman an einer Stelle in dem Buch zitiert. „Dies ist, was wir tun, und dies ist unser Programm.“ Eine Reihe von Schlüsselfragen seien für Fahrer nicht verhandelbar, dazu zählt er Aspekte rund um Ernährung, Höhentraining und Aerodynamik. „Glaub uns einfach, wir haben alles gesehen und gehört, und bei den Jungs, die nicht mitgezogen haben, ist es nicht gut ausgegangen. Wir können uns lange darüber unterhalten, aber wenn du nicht daran glaubst, brauchst du für uns nicht fahren.“ Wer mag, kann in dieser professionellen Nüchternheit auch Spuren calvinistischen Eifers erkennen, der sich in den Niederlanden mitunter ja ganz wohlfühlt.  

Die eingangs erwähnte erste Netflix-Doku zur Tour de France 2022 hatte teaminterne Konflikte bei Jumbo-Visma hochgejazzt, was Wout van Aert bekanntlich schon kurz nach der Veröffentlichung monierte. In dem Buch „Der Plan“, in dem ja auch jene Tour de France eine große Rolle spielt, tauchen andere Konflikte und Themen auf, mit denen sich die Fahrer und Coaches damals beschäftigt hatten. Die Kraft der Sprache verspricht in diesem Fall also deutlich mehr Erkenntnisse als die Macht der Bilder. 

Das Buch kostet € 24,80 und ist im Shop von Covadonga erhältlich