Geschichte schreiben, Teil 1: Biniam Girmay
„Eine halbe Überraschung“ stufte Teamkollege Georg Zimmermann den Sieg von Biniam Girmay auf der 3. Etappe der Tour de France ein. Eigentlich würden Girmay ja eher schwierigere Etappenankünfte als die in Turin liegen, führte Zimmermann im TV-Interview nach der Etappe aus. Die breite Zielgerade mit langer Anfahrt schien prädestiniert für einen Sprint royal, der endschnellen Fahrern wie Jasper Philipsen (Alpecin-Deceunick), Dylan Groenewegen (Jayco Alula) oder Mads Pedersen (Lidl-Trek) besser liegen sollte. Doch nicht zuletzt durch einen Sturz 2,3 km vor dem Ziel, der unter anderem Jasper Philipsen zu Fall brachte, wurden die Sprintkarten neu gemischt.
Nur noch eine Gruppe von rund 30 Fahrern hatte Chancen auf den Sieg. Intermarche-Wanty, die schon vor dem Sturz gut positioniert waren, nutzte die Gunst der Stunde und trug sich mit dem Tour-Premierensieg eines Fahrers aus Eritrea in die Geschichtsbücher ein. Ein großartiger Erfolg für das wallonische Team, das seit seiner Gründung 1974 einen geradezu märchenhaften Aufstieg erlebte. Das einstige Amateurteam aus jenem Teil Belgiens, der angeblich nicht ganz so radsportvernarrt ist, zählt mittlerweile zur Weltspitze. Wie passend, dass die Film-Dokumentation „This is my Moment“ über das Leben von Biniam Girmay, die 2024 in die Kinos kam, seit ein paar Tagen im belgischen TV als Stream zu sehen ist.
In der aktuellen Saison war es für den 24-jährigen Girmay nicht immer rundgelaufen. Nach einem guter Saisonauftakt mit Top-3-Platzierungen bei der Tour Down Under und einem Sieg der Surf Coast Classic folgten weniger erfreuliche Ergebnisse bei den Frühjahrsrennen. Beim Giro d’Italia musste er verletzt aussteigen. Doch Ende Mai zeigte die Formkurve nach oben mit einem Sieg beim Circuit Franco-Belge und einem zweiten Platz bei Rund um Köln. Nach dem Tour-Sieg in Turin ist dieses Jahr definitiv ein erfolgreiches.
„Seit ich mit dem Radsport angefangen habe, habe ich immer von einer Teilnahme bei der Tour de France geträumt“, erklärte der überglückliche Tagessieger im Ziel. „Ich kann es nicht glauben, dass ich hier in meinem zweiten Jahr bei einem Massensprint gewonnen habe.“ Es sei ein großer Tag für Eritrea und Afrika.