Ruhm sei vergänglich, betont Thomas Olsthoorn im Vorwort von „Episch“. Sein Buch, das sich außergewöhnlichen Etappensiegern der Tour de France widmet, zeigt, wie unterschiedlich dieser Ruhm empfunden werden kann.
Auch wenn ein Tagessieg bei der Frankreich-Rundfahrt zu den größten Erfolgen zählt, die es im Radsport zu erzielen gibt, finden bei weitem nicht alle Etappensieger ihren Weg ins kollektive Radsportgedächtnis (von anderen Erinnerungsformen ganz zu schweigen). Diesem setzt Thomas Olsthoorn 14 Geschichten von Etappensiegern entgegen, die aus seiner Sicht erinnerungswürdig sind – nicht zuletzt weil auf dem Weg dorthin immer wieder Hindernisse wie Zweifel, Formkrisen, Stürze oder private Belastungen zu bewältigen sind, die an zahlreichen Stellen im Buch auftauchen.
Erfreulich ist, dass der Autor bei den Geschichten Wert auf Vielfalt legt. So kommen nicht nur Fahrer aus Europa zu Wort, sondern mit Hugo Houle und Daryl Impey auch Profis aus Kanada und Südafrika, die gewiss nicht allen Radsportfreundeskreisen sofort einfallen, wenn es um Tour-Tagessieger geht. Gelungen ist zudem, dass mit Marianne Vos und Annemiek van Vleuten zwei Etappensiegerinnen ausführlich gewürdigt werden. Mit Marcel Kittel und John Degenkolb wird auch die Story von zwei Etappensiegern aus Deutschland erzählt.
Herausgekommen sind individuelle, komprimierte Geschichten aus den vergangenen zehn Jahren. Bei Sprinter Marcel Kittel löste der Tour-Etappensieg 2014 etwa keine große Ekstase aus, vielmehr empfand er den Sieg als Erleichterung – so stark war der Druck, der auf seinen Schultern lastete. Domestik Hugo Houle verbindet seinen überraschenden Sieg mit dem zehn Jahre zuvor verstorbenen Bruder, der beim Lauftraining von einem betrunkenen Autofahrer angefahren worden war. Auch John Degenkolb hatte bei seinem Tour-Sieg 2018 den Tod eines familiären Freundes im Kopf.
Dylan Teuns suchte den Ort seines Triumphes in den Vogesen wenige Monate nach dem Tagessieg noch einmal auf, um genau hier seiner Freundin einen Heiratsantrag zu machen. Um allen Radsportromantikern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen: Das Bindungsprojekt war nur kurzfristig erfolgreich. Marianne Vos erinnerte sich beim Autogrammschreiben nach ihrem ersten Etappensieg bei der Tour de France Femmes daran, dass sie als Kind mit ihrer Familie viele Tour-Urlaube im Kleinbus verbrachte, um selber auf Autogrammjagd zu gehen.
Simon Clarkes Sieg auf der Kopfsteinpflasteretappe 2022 erzählt von der taktischen Finesse eines erfahrenen Profis, während Daryl Impeys Erfolg auch davon berichtet, wie schwer es Fahrer aus Afrika haben, sich im Profizirkus zu etablieren. Natürlich darf auch die ein oder andere Anekdote nicht fehlen. Während sich Annemiek van Vleuten an Flatulenzen im Teambus erinnert, bereiten dem notorischen Ausreißer Thomas de Gendt noch heute jene Unmengen an Gels Bauchschmerzen, die ihm den kraftraubenden Soloritt nach Saint-Etienne 2019 erfolgreich beenden ließen.
Dass das mit dem Attribut „episch“ so eine Sache ist, zeigt das Beispiel von Mike Teunissen, der 2019 quasi aus Versehen beim Tour-Auftakt ins Gelbe Trikot fuhr. Als er später zum Team Intermarche Wanty wechselte, hatten etliche seiner neuen Teamkollegen diesen Coup überhaupt nicht mehr auf dem Schirm, wie Teunissen bemerkte: „Die Welt abseits des Profiradsports romantisiert das manchmal ein bisschen zu sehr. Es ist wirklich nicht so, dass ich noch oft von anderen daran erinnert werde.“
Was also macht einen Etappensieg bei der Tour de France „episch“? Gewiss sind es außergewöhnliche Leistungen des Fahrers, der an einem Tag als Erster die Ziellinie überquert. Aber auch eine bestimmte Teamtaktik oder besondere Umstände wie Wetterkapriolen oder unvorhergesehene Rennereignisse können eine Rolle spielen. Die Etappen in diesem Buch werden aus der Sicht des Siegers beschrieben. Ergänzende Perspektiven hätten den Blick mitunter weiten können: zum Beispiel wenn der Blickwinkel von Teamkollegen, Sportlichen Leitern oder unterlegenen Fahrern ausführlicher einbezogen worden wäre. Etwas schade ist zudem, dass der Fokus ausschließlich auf der aktuellen Fahrergeneration liegt. Die Tour de France hat in ihrer Historie gewiss noch einige Siegertypen parat, deren Geschichte noch nicht auserzählt ist. Diese können im Rückblick noch einmal anders beurteilen, warum ihr Etappensieg außergewöhnlich war – und welche Spuren ein Triumph in Frankreich im weiteren Leben hinterlassen kann.
Radsportjournalist Thomas Olsthoorn ist Chefredakteur der niederländischen „Procycling“ und schreibt für das niederländische Magazin „Helden“. Das Buch ist im Delius Klasing Verlag erschienen.
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