„Ich bin erstmal vom Stuhl gefallen und musste wegen meiner Hüfte eine Woche ins Krankenhaus“, sagt John Wakefield und lacht. Einen lockeren Spruch hat der Südafrikaner stets auf den Lippen und so verpackt er auch seine Reaktion, als die Teamleitung ihn mit der Führungsrolle für den Aufbau des neue U23-Development-Teams betreut. „Nein, nein, das war ein Witz. Aber ich war schon sehr überrascht, dass sie mir dieses Projekt anvertrauten. Es ist ein großartiges Projekt, bei Null anzufangen und solch ein Team aufzubauen“, so Wakefield, der im März die Führungsrolle für das Projekt schließlich antrat.
Die Pläne für ein eigenes Devo-Team kamen nicht überraschend. Die Lücke zwischen der Juniorenmannschaft – wo Christian Schrot über Jahre den Nachwuchs betreute und eine wichtige Aufbauarbeit leistete – und der WorldTour-Equipe war zu groß. Auch wenn Fahrer wie Remco Evenepoel den Sprung aus den Junioren direkt in die WorldTour schafften – für viele Talente ist ein Zwischenschritt sinnvoll. In der Vergangenheit versuchte das Bora-Team über Kooperationen mit Conti-Teams die Lücke zu füllen, nun ist nach dem Einstieg von Red Bull die Möglichkeit da, ein eigenes Team nach den eigenen Wünschen aufzubauen.
Wakefield in Schlüsselrolle
Den Aufbau eines U23-Teams hatte Teamboss Ralph Denk schon im Winter bei einem Hintergrundgespräch mit Journalisten bestätigt, welchen Weg man einschlagen wird und vor allem welche Person die Schlüsselrolle beim Aufbau spielen wird, war zunächst nicht klar. Spekuliert wurde zunächst, dass man sich extern Verstärkung holt und es waberten auch schnell gerüchteweise Namen durch die kleine Radsportwelt. Doch man wählte eine interne Lösung.
John Wakefield stieß zur Saison 2023 zum Team von Ralph Denk, kam vom Team UAE. Er fügte sich schnell ein und war als Trainer schnell erfolgreich. Neben der sportwissenschaftlichen Expertise besitzt Wakefield die Fähigkeit, schnell den Menschen hinter dem Athleten zu erkennen. „Wir wissen um Johns Qualitäten und dazu zählt ganz sicher auch der Umgang mit den Athleten. John arbeitet sehr strukturiert und scheut sich nicht davor, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Dan Lorang, der als Head of Performance maßgeblich an der Verpflichtung des 47-Jähren beteiligt war.
Ein eindrückliches Beispiel für seine erfolgreiche Arbeit war die Entwicklung von Nico Denz. Wakefield übernahm die Trainingsbetreuung nach dessen Ankunft beim Bora-Team. Verpflichtet wurde Denz – grob in Radsportsprache formuliert – weil er ein verlässlicher Fahrer ist, der über Rennintelligenz verfügt, hart treten und eine Flasche annehmen kann.
Denz hat den Radsport in der Nachwuchsklasse in Frankreich auf die harte Tour gelernt und sich bei AG2R durchgebissen. Bei Sunweb anschließend war er einer der wichtigsten Helfer für Wilco Kelderman und Jai Hindley beim legendären Giro 2020, den am Ende Tao Geoghegan Hart gewann. Das beeindruckte auch Rolf Aldag, der ihn anschließend im Blick hatte und dann später ins Bora-Team holte.
Im Rampenlicht stand Denz selbst so gut wie nie. Im Zusammenspiel mit Wakefield jedoch schöpfte Denz sein Potenzial aus, rettete mit zwei Etappensiegen 2023 die Giro-Bilanz für das deutsche Team. Wakefield hatte schnell erkannt, dass es für Denz in der Vorbereitung auf einen Saisonhöhepunkt in besonderem Maße eine solide und vor allem ungestörte Vorbereitung braucht. Diese Chance bekam Denz in der Girovorbereitung, vor allem auch, weil sich Wakefield dafür stark machte, ihn im Frühjahr nicht zu sehr „als Springer“ einzusetzen, als die Personaldecke dünn wurde. Ein anderes Beispiel ist Max Schachmann, mit dem Wakefield den Reset-Knopf drückte und gemeinsam einen Weg fand, sich Selbstvertrauen, Trainingsgrundlage und Motivation zu erarbeiten. Er weiß, wie er die Sportler anpacken muss. „Ja, ohne, wie soll ich sagen, eitel zu klingen, aber ich glaube, ich kann Menschen ziemlich schnell lesen“, sagt Wakefield im Gespräch mit CyclingMagazine und schiebt mit einem Lachen nach: „Ich glaube, das ist der Grund, warum ich nicht viele Freunde habe.“ Wakefield formuliert auch seine Gedanken direkt und offen.
Die Entscheidung für eine interne Lösung für den Aufbau der Nachwuchsabteilung kam für viele Beobachter etwas unerwartet, ist aber durchaus nachvollziehbar. Auch deshalb, weil Wakefield die Struktur des Teams, die Konzeption der Juniorenmannschaft, die Abläufe und das Zusammenspiel der Performance-Abteilung kannte – was viel Einarbeitungszeit unnötig machte.
Talent-Scouting unter Hochdruck
Das Ziel war klar: Zur Saison 2025 ein U23-Team an den Start bringen. Ein tolles Projekt, aber durchaus ambitioniert. „Mir wurde ein großes Vertrauen entgegengebracht“, sagt Wakefield. „Aber da war nichts. Kein Staff, keine Bikes. Es hieß einfach: Los gehts. Ich habe durchaus Hilfe im Team bekommen, bin aber mit einem leeren Blatt Papier gestartet.“
Durch den zeitlichen Druck war die Herangehensweise ein Stück weit vorgegeben. „Das wichtigste sind die Fahrer, denn ohne sie können wir keine Rennen bestreiten“, sagt Wakefield. Die Scoutingabteilung, allen voran der Belgier Tim Meeusen, arbeitete mit Hochdruck. Dass einige große Talente aus dem Juniorenteam in die U23-Mannschaft aufrücken, war von Vorteil. Doch die richtigen Talente für die eigenen Ziele zu finden war eine Herausforderung.
„Wir haben nachts um 11, 12 Uhr miteinander gesprochen und um sieben Uhr morgens angefangen“, sagt Wakefield über die intensive Zeit. „Wir haben uns mehr als 60 Fahrer angesehen!“ Nachdem die Fahrer-Agenten wussten, wer bei Red Bull die Nachwuchsabteilung aufbaut, wurde es für Wakefield nicht ruhiger – im Gegenteil.
Gesucht wurden Fahrer mit großem Potenzial, aber nicht eindimensional. „Es war nicht so, dass wir nur nach einem Fahrer für die Gesamtwertung gesucht haben, weil wir die Tour 2030 gewinnen wollen. Wir haben uns nach jedem Phänotyp umgesehen, von dem wir glauben, dass er das Team ergänzt und dem entspricht, was wir anstreben. Ich würde sagen, dass unser Team ziemlich ausgewogen ist“, so Wakefield.
Die Herangehensweise folgte dem Aufbau eines Teams. Also wurden ein oder zwei GC-Fahrer gesucht, dazu Klassiker-Fahrer, Helfer und Sprinter. Nach bestimmten Kriterien wurden die Sportler eingestuft. „Es geht darum, wo sie körperlich stehen, was ihr Trainingsalter ist, wie ich gerne sage, wie viel mehr Entwicklung wir aus ihnen herausholen können, wo dieser Athlet sich selbst sieht“, erklärt Wakefield.
„Und natürlich gehört auch die Persönlichkeit dazu. Wir haben also einen ganzheitlichen Ansatz gewählt und auch die Anforderungen berücksichtigt. Es geht also mehr darum, was wir in ihnen sehen, wie weit sie sich entwickeln können oder nicht. Und ja, natürlich ist die Persönlichkeit ein Merkmal, auf das wir achten, aber es ist mehr ein Gesamtbild des Gefühls und des Blicks auf diesen speziellen Sportler.“ Ausführliche Gespräche wurden geführt, mit den Sportlern, Agenten und Eltern. „Natürlich schauen wir uns die Daten an, schauen wir uns die Ergebnisse an. Und wenn wir mit dem, was wir sehen, nicht super zufrieden sind, geht es nicht weiter. Wenn uns das, was wir sehen, in jeder Hinsicht gefällt, gehen wir zu einem Vorstellungsgespräch und dann ist es ein ziemlich ausführlicher Interviewprozess mit dem Fahrer, dem Agenten und den Eltern“, erklärt Wakefield.
Auf die Frage, was denn von den Sportlern die übliche Rückfrage war, muss Wakefield schmunzeln. „Ob sie einen Red-Bull-Helm bekommen.“ Das Team um Wakefield hatte eine detaillierte Präsentation vorbereitet. „Darüber, was wir tun, wie wir es tun, was wir ihnen anbieten und was wir ihnen nicht anbieten. Ich war schon bisschen stolz, dass die Fahrer und das Management, insbesondere die Fahrer, alle sagten, dass es die beste Präsentation war, die ihnen je ein Team geboten hat. In Bezug darauf, wie wir es tun und was wir tun und was wir anbieten. Aber ja, die häufigste Frage war: bekommen wir einen Helm?“
Ehrgeiz und Ego
Ehrgeizig sind viele Nachwuchssportler, selbstbewusst nach schnellen Erfolgen ohnehin – doch bei einigen Talenten besteht die Gefahr eines „ungesunden Egos“ – was in einem Radteam schnell zum Problem werden kann. „Für einen Champion muss man eine Typ-A-Persönlichkeit haben, was ein Ego ist. Wenn man das nicht hat, wird man kein Radrennen gewinnen. So einfach ist das. Nette Leute gewinnen keine Radrennen. Ich genieße dieses Ego, aber es muss richtig kanalisiert und auf eine positive Art und Weise gehandhabt werden“, sagt Wakefield. „Man braucht also diese psychologische Stärke, die einen dazu bringt, sich seiner selbst absolut sicher zu sein. Unsere Aufgabe ist es jedoch, herauszufinden, wer im Grunde selbstbewusst ist und wer nur seiner selbst absolut sicher ist. Und das muss man entsprechend handhaben.“ Es gehe darum, das Ego positiv zu kanalisieren, nicht auf eine narzisstische Weise.
„Das ist der Schlüssel in Bezug auf die Entwicklung junger Leute. Ich habe das Gefühl, dass vieles davon übersehen wird. Und ich sage das nach der Arbeit mit jungen Sportlern – ich genieße dieses Ego, aber es muss richtig kanalisiert und positiv gehandhabt werden. Wenn das nicht der Fall ist, hat man einfach ein Arschloch. Und Arschlöcher verschwinden, um ehrlich zu sein, sehr schnell. Niemand möchte in ihrer Nähe sein.“
Wakefield hat mit Nachwuchssportlern bereits Erfahrung gesammelt. „Mein Hintergrund ist eigentlich Motocross“, erzählt er. „Ich habe damals mit Kindern gearbeitet, die erst 9 oder 10 Jahre alt waren. Und 20, 30 Jahre später fahren sie jetzt Rennen und gewinnen Motocross-Grand-Prixs. Ich habe während des gesamten Prozesses persönlich eins zu eins mit ihnen gearbeitet“, so Wakefield. „Das, was ich damals gelernt habe, in dieses Projekt einzubringen, gepaart mit dem Wissen und dem Zeug von Red Bull und Red Bull Bora-Hansgrohe, ist wirklich gut.“
Entwicklungsplan
Der Kader des neuen Teams wurde bereits vorgestellt, der des Juniorenteams für 2025 noch nicht nicht im Detail. Künftig geht es an die Entwicklung der verpflichteten Talente. Von den Junioren bis zum Sprung zu den Profis sollen die Sportler übergreifend trainiert werden. Ein Bruch zwischen den Altersklassen soll vermieden werden. Höhentrainingslager sind für die U23-Fahrer geplant und auch, dass sie nach Möglichkeit Rennen mit den Profis bestreiten.
Der Ansatz im Team ist es, die Sportler in ihrer Entwicklung ganzheitlich zu begleiten. Da geht es um die physiologische Entwicklung, um Fahrtechnik und Renntaktik. Aber es geht auch um die persönliche Entwicklung. „Ich weiß aus dem Team, in dem ich war, dass der eine Youngster, den wir geholt hatten, super jung für die World Tour, aber wirklich gut, ein super selbstbewusstes Ego mitbrachte und all so etwas. Aber sein Zimmer war immer ein einziges Chaos. Von dieser Seite aus betrachtet, brachte er keine Reife mit. Und wir hatten ihn mit einem erfahrenen Profi in einem Raum untergebracht, der sehr professionell war und wusste, wie man Dinge abseits des Fahrrads erledigt“, so Wakefield. In diesem Zusammenhang ist es wenig überraschend, dass Ex-Profi Cesare Benedetti eine Rolle im neuen Devo-Team als Sportlicher Leiter einnehmen wird.
Der Entwicklungsprozess der Sportler wird dokumentiert, analysiert und für künftige Auswertungen aufbereitet. Es gibt ein „Überwachungsdokument“ für den Entwicklungsprozess des Athleten. Auch Peter Leo, der sich in der Vergangenheit wissenschaftlich mit der Entwicklung von jungen Radsportlern beschäftigt hat, lieferte Input. Nutzbar sollen alle Daten sowohl für das Scouting, als auch die Beobachtung der Entwicklung sein. Ein Dokument mit den Parametern für die Beurteilung der Fahrer, die gescoutet werden, gab es bereits – inklusive Daten aus den Fahrerinterviews für die Beurteilung der psychologischen Aspekte. Ein weiteres folgt nun. „Wir haben jetzt ein Monitoring-Dokument, das die Entwicklung verfolgt, und wir werden genau wissen, ob wir mit ihnen auf dem richtigen Weg sind oder ob sie möglicherweise an eine Grenze gestoßen sind oder was wir verpasst haben und was wir verbessern müssen“, so Wakefield. Er ist sich sicher, dass sie nun auch ausreichend Ressourcen haben, diese Daten entsprechend zu analysieren und aufzubereiten. „Absolut“, sagt Wakefield.
Eines der Ziele für die erste Saison ist es, dass sich die neue Mannschaft zusammenfindet und sich die Abläufe in den Strukturen finden. „Was für mich Erfolg im ersten Jahr bedeutet? Gute Ergebnisse sind sicher ein Ziel. Aber für mich ist eine gut geölte, strukturierte Maschine, ein funktionierendes Team und eine funktionierende Maschine der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Wakefield.
Insgesamt betrachtet war der Einfluss von Red Bull bislang überraschenderweise gering. Ganz untypisch für das Brause-Unternehmen wurde nicht direkt an den langfristigen Elementen gearbeitet, sondern erstmal gestartet. So war beispielsweise der Einfluss aus anderen Sportbereichen – ob Fußball oder Eishockey – in Sachen Aufbau einer Nachwuchs-Academy-Infrastruktur gering. Zum Start des Devo-Teams gibt es noch keine Entscheidung über ein Campus-Konzept oder ähnliches. Dass hier bislang Red-Bull-intern wenig disziplinübergreifend gearbeitet wurde, hängt vielleicht auch mit dem Zeitdruck für den Start zur Saison 2025 zusammen. Doch das wird sich vermutlich schnell ändern, denn Wakefield betont, dass der angestoßene Prozess mit der üblichen Langfristigkeit und Weitsicht verfolgt wird, wie das bei anderen Red-Bull-Projekten auch ist.
Im ersten Schritt ging es wohl darum, Fahrer und Mitarbeiter einzustellen, die Grundlagen der Strukturen zu schaffen, damit man starten kann. Man darf gespannt sein, wie sich dieses Projekt künftig entwickelt und wann die ersten Top-Talente den Sprung aus dem neuen Devo-Team in die WorldTour machen.