
Im Herbst 2024 hat John Degenkolb seinen Vertrag mit dem Team Picnic PostNL um ein weiteres Jahr verlängert. Bis Ende 2026 wird der 36-Jährige für die niederländische Mannschaft fahren. Mindestens. „Die Mannschaft hat mir volles Vertrauen entgegengebracht. Das habe ich als Wertschätzung empfunden und das motiviert mich sehr“, sagt Degenkolb. Er habe aus der Vertragsverlängerung zudem Selbstvertrauen gewonnen und sich im Winter voll reingehängt. Die Saisonvorbereitung lief überwiegend gut. „Leider war ich über Weihnachten krank, aber sonst hatte ich einen guten Winter“, so Degenkolb.
Im niederländischen Team genießt er nicht nur wegen seiner großen Erfolge oder sportlichen Leistungen hohes Ansehen. Er ist mit seiner Erfahrung für die Mannschaft mit sehr vielen jungen Talenten in den Rennen, aber auch abseits der Wettkämpfe enorm wichtig. Als verlängerter Arm der Teamleitung ist Degenkolb als Roadcaptain gefragt, kann den Talenten Vorbild sein, aber auch mal helfen, die Anspannung zu lösen. Die Achterbahnfahrt einer Profikarriere kennt der Routinier nur zu gut.
„Radsport ist mehr als gewinnen oder verlieren“
Roadcaptain & Mentor
Degenkolb steuert das Team im Rennen, versucht den besprochenen Plan umzusetzen und auf die verschiedenen Entwicklungen im Wettkampf zu reagieren. Seine Erfahrung ist dabei hilfreich, doch die allein bringt es nicht. „Ich habe schon den Eindruck, dass ich das ganz gut mache, dass es mir gelingt, für das ganze Team zu denken und schnell zu reagieren. Aber jedes Rennen bringt wieder eine neue Situation, du musst immer wieder neu reagieren, auf das was grad passiert“, sagt Degenkolb.
Er hat sich in den vergangenen Jahren vom Leader und Monument-Champion zum Mentor für junge Talente entwickelt. Nicht allen großen Champions gelingt dieser Schritt. Degenkolb ist ein „Racer“, der die Rennen liebt. Seine große Leidenschaft gilt dem Wettkampf. Doch seine Verbundenheit zum Sport, vor allem zu den Klassikern ist längst größer, als nur der Antrieb, bei den traditionsreichsten Rennen um Siege zu fahren und im Rampenlicht zu stehen. „Was mich an John beeindruckt hat, ist, dass er bei jedem Rennen das Maximum erreichen will, voll motiviert ist, ganz egal um welches Rennen es geht“, sagte sein Ex-Teamkollege Marius Mayrhofer über Degenkolb. Er will Rennen fahren, Siege holen, egal ob kleines Rennen im flämischen Nirgendwo, oder eines der Radsport-Monumente.
Schon als Nachwuchsfahrer war sein Ehrgeizig auf Anhieb zu erkennen, auf dem Rad und abseits der Rennen. In seiner Karriere ging es zunächst immer nur bergauf, dann durchlebte er aber durch einen Trainingsunfall einen heftigen Rückschlag. Erfahrungen, die den Menschen John Degenkolb verändert haben.
„Erfahrung kann man nicht hinzukaufen, es braucht mit den jungen Talenten Zeit und Geduld“
Es ging wieder bergauf und der Etappensieg bei der Tour de France war viel mehr für Degenkolb, als nur ein Peak in der Achterbahnfahrt. Die Auswirkungen von Unfällen und äußeren Einflüssen sind oft nicht sofort erkennbar, manche Dinge wirken nach. Bei Degenkolb haben die Erlebnisse seiner inzwischen langen Karriere auch den Blickwinkel verändert. Auf seinen Sport, aber auch auf seine Rolle. Es ist Degenkolb anzumerken, dass er es als großes Privileg empfindet, seine Leidenschaft auszuleben, Rennen zu fahren und alle Facetten dieses Sports auskosten zu können. „Radsport ist mehr als gewinnen oder verlieren“, sagt Degenkolb, um dann direkt „aber natürlich will ich immer gewinnen“, mit einem Lachen nachzuschieben.
Es ist wohl diese Mischung, die es für ihn möglich machte, sich vom großen Leader zum Roadcaptain zu entwickeln, und dabei den gleichen Ehrgeiz auszuleben. „Ich sage nicht, ich weiß wie der Hase läuft, also kann ich das. Ich versuche die Rennen gut vorzubereiten, dann nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen zu treffen. Auch die Mannschaft im Vorfeld einzustimmen. Aber ich bin da ganz sicher noch nicht am Ende meiner Entwicklung“, sagt Degenkolb.

Positive Entwicklung bei Picnic-PostNL
In der Mannschaft mit vielen jungen Talenten ist jemand wie Degenkolb sehr wertvoll. Er kann sich in die aufstrebenden Leader reinversetzen, lebt Ehrgeiz vor und kann auch mit wachsenden Egos umgehen. Nicht nur mit seinen Palmares weiß er sich Respekt zu verschaffen. Er selbst war bei seiner aktuellen Mannschaft vor mehr als 10 Jahren der aufstrebende junge Star. Nun erlebt er, wie erneut eine Generation junger Talente im niederländischen Team nach oben drängt.
„wenn wir weiter gut zusammenarbeiten, werden sich die Erfolge von ganz allein einstellen“
„Es tut der Mannschaft gut, dass wir keine großen Neuzugänge und Abgänge hatten“, sagt Degenkolb bestimmt. „Dass wir als Gruppe zusammenbleiben, weiterhin was aufbauen können, das ist extrem wichtig. Wir haben starke Fahrer, wollen in diesem Jahr noch erfolgreicher sein. Aber Erfahrung kann man nicht hinzukaufen, es braucht mit den jungen Talenten Zeit und Geduld. Das ist allen im Team bewusst“, so Degenkolb.
„Um ehrlich zu sein finde ich das ziemlich geil, dass die Teamleitung ganz klar sagt: Wir vertrauen auf euch! Das ist in meinen Augen enorm wichtig für langfristigen Erfolg. Und auch die Fahrer, die sich dann für einen langfristigen Erfolg der Karriere entscheiden, als kurzfristig mehr Geld bei einem anderen Team zu verdienen. Das ist bei einigen vielleicht schon vergleichbar mit meinem Weg, denn ich bin damals auch aus der WorldTour zu einem kleineren Team gegangen. Wobei es bei mir damals etwas krasser war, da es noch die Unsicherheit gab, bei welchen Rennen wir überhaupt dabei sind. Das ist heute bei unserem Team als WorldTour-Mannschaft natürlich kein Thema“, sagt Degenkolb.
Zusammen wachsen
Nur wenige andere Teams haben so viele junge Talente – Onley, Poole, Van Uden, Andresen, Bittner, Van den Broek … abgesehen von Van den Broek sind alle jünger als 24! Die Mannschaft setzt auf die jungen Talente, die aber längst keine Underdogs mehr sind. „Mit Jungs wie Max Poole und Oscar Onley am Start wissen die anderen Mannschaften auch, dass wir jemanden haben, der ganz vorn reinfahren wird. Diese Rolle nehmen wir an und das sollte uns Selbstvertrauen geben. Doch es geht immer auch darum, Selbstvertrauen weiterzugeben, an alle Fahrer im Team“, so Degenkolb.
„Ich bin der Meinung, dass uns das gut gelingt, wir als Mannschaft gut zusammenarbeiten. Natürlich klappt nicht alles und manche Sachen kann man schwer beeinflussen, wie Tobias bei der Tour Down Under (Anmerk. Tobias Lund Andresen wurde im Sprint der zweiten Etappe regelwidrig behindert und ihm die exzellente Chance auf den Sieg genommen). Aber wenn wir weiter gut zusammenarbeiten, werden sich die Erfolge von ganz allein einstellen. Was die Sprinter betrifft, aber den Rest des Team ebenso.“
Roubaix als große Ziel
Roadcaptain Degenkolb wird während der Klassiker in die Rolle des Leaders schlüpfen, vor allem bei „seinem“ Rennen – Paris-Roubaix. „Natürlich ist das mein großes Ziel, gar keine Frage“, sagt Degenkolb bestimmt. „Ich habe bewiesen, dass ich dort Top-Leistungen zeigen kann und noch immer ganz weit vorn landen kann. Dieses Rennen hat für mich eine ganz besondere Bedeutung und natürlich ist es immer in meinen Gedanken, schon im Winter, wenn ich die Vorbereitung starte“, so der 36-Jährige. Nicht selten schaut er beim Rollentraining alte Editionen des Pflaster-Klassikers an, nicht nur die, bei denen er selbst dabei war.
„Paris-Roubaix wird das große Highlight meines Frühjahrs, ganz klar. Wir haben das neue Material schon auf dem Pflaster getestet und auch dort Fortschritte gemacht. Im Moment sind die Pflaster-Rennen im meinem Kopf noch recht weit weg. Aktuell steht wieder ein wichtiger Trainingsblock an und dann geht es an die Algarve, wo wir als Team mit großen Ambitionen starten. Danach aber schon zum Opening Weekend nach Belgien. Das sind jetzt echt nur noch zwei Wochen bis zum Klassiker-Auftakt“, sagt Degenkolb und lacht. „Ich freue mich auf die Rennen. Die Stimmung, die Fans, diese einzigartige Klassiker-Atmosphäre. Die kann ich ja noch mindestens zwei Mal genießen“, sagt Degenkolb mit einem breiten Grinsen und Augenzwinkern.
Auf dem Plan stehen für sein Frühjahr nach dem Opening Weekend Paris-Nizza, Mailand-Sanremo, Gent-Wevelgem, die Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix. Der Start beim Heimrennen Eschborn-Frankfurt am 1. Mai ist natürlich auch geplant.
Auch lesen: Pflasterliebe – wie John Degenkolb einen Pavé-Sektor bekam
„Es scheint, als sei ich für dieses Rennen gemacht“ – John Degenkolb nach Paris-Roubaix 2024