
Es war ein heftiger Sturz: Bei sehr hohem Tempo, vor einer der Schlüsselstellen der Flandern-Rundfahrt machte ein Fahrer vor ihm einen Fehler und John Degenkolb hatte keine Chance auszuweichen. Degenkolb flog drüber und krachte auf den rechten Arm.
„Ich muss wohl versucht haben, den Sturz etwas mit dem Arm abzufangen. Auf jeden Fall habe ich sehr viel Kraft mit dem rechten Handgelenk absorbiert, dann kam es zu einer Art Kettenreaktion im rechten Arm“, beschreibt Degenkolb die Folgen des Sturzes. Handgelenk, Ellenbogen und Schlüsselbein brachen. „In vielen Fällen kommt man bei einem solchen Sturz mit einem gebrochenen Schlüsselbei davon, in meinem Falle ist aber leider viel kaputtgegangen“, so Degenkolb.

Zunächst wurde der Klassikerspezialist in Belgien behandelt, dann ein zweites Mal in Frankfurt operiert. „Sie haben alles wieder zusammengesetzt und nun muss es heilen“, sagt Degenkolb, berichtet von sehr schmerzhaften ersten Tagen nach der OP.
„Den Tiefpunkt habe ich bereits durchschritten, jetzt schaue ich nach vorn“, sagt der 36-Jährige ruhig. Ihm steht eine intensive Reha bevor und dann ein langer Weg zurück an die Weltspitze.
„Ich weiß, wie schwer das wird. Ich habe solche Rückschläge in meiner Karriere schon erlebt, kann gut einschätzen, was auf mich zukommt. Doch jetzt geht es erstmal darum, dass der Arm verheilt und ich den vollen Bewegungsumfang zurückbekomme. Ans Radfahren denke ich im Moment noch nicht.“ Im Jahr 2016 erlitt Degenkolb einen schweren Unfall im Trainingslager, verpasste einige Monate und kehrte dann zurück. „Man kann die Situationen jetzt nicht direkt miteinander vergleichen, aber ganz klar spielen die Erfahrungen aus der Vergangenheit eine Rolle, um mit der aktuellen Situation klarzukommen“, so Degenkolb. „Damals dauerte es wegen der offenen Verletzungen ewig, ehe operiert werden konnte, das war diesmal besser.“
Nur knapp eineinhalb Wochen nach dem Sturz bei der Flandern-Rundfahrt wirkt der Routinier aufgeräumt und strahlt Zuversicht aus. Obwohl ihm der unverschuldete Sturz bei der Flandern-Rundfahrt die Chance auf die Teilnahme bei seinem Lieblingsrennen Paris-Roubaix nahm – genau 10 Jahre nach dem größten Triumph seiner Kariere im Velodrom von Roubaix. Er scheint die Enttäuschung schnell überwunden zu haben. „Natürlich tat es weh, nicht dabei sein zu können. Aber ich kann es nicht ändern und will dann alles daran setzen, im nächsten Jahr dabei zu sein“.
Den Arm in Gips hat er die Roubaix-Rennen vorm TV angeschaut. Die Liebe zu diesem Rennen ist viel größer, als der Schmerz es zu verpassen. „Natürlich habe ich es angeschaut. Vom Vorbericht bis zum Ende, und alle Interviews auch noch“, sagt Degenkolb und lacht.
Eine klare Prognose, wie lange die Reha dauern wird und wann er möglicherweise in den Rennzirkus zurückkehren kann, gibt es nicht. „Alles geht Schritt für Schritt. Wir stehen jetzt ganz am Anfang, die OP ist erst wenige Tage her. In Sachen Comeback geht es dann erstmal darum, das Ganze so stabil zu bekommen, dass ich wieder aufs Rad kann. Wie lange ich auf der Rolle bleiben muss, werden wir sehen“, sagt Degenkolb.
Es ist durchaus beeindruckend, wie Degenkolb den Rückschlag verkraftet hat und mit welcher Zuversicht er nach vorn blickt. „Vom Kopf her bin ich schon bereit, wieder aufs Rad zu steigen. Aber ich weiß natürlich, dass ich geduldig sein muss. Meine Lieblingsrennen zu verpassen, jetzt auch bei Eschborn-Frankfurt zuschauen zu müssen, ist wirklich hart. Zumal ich wirklich in einer super Verfassung war und mich extrem auf Roubaix gefreut hatte. Aber es wird auch nicht besser, wenn man sich jetzt noch länger darüber ärgert. Auch das ist eine wertvolle Lektion, die ich in meiner langen Karriere gelernt habe. Je eher man den Blick nach vorn richtet, desto schneller kann es auch bergauf gehen. Und ich muss klar sagen – der Zuspruch und die Unterstützung, die ich in den vergangenen Tagen, auch rund um Paris-Roubaix erhalten habe, gibt extrem viel Kraft. Dafür bin ich wirklich dankbar“, sagt Degenkolb und schiebt mit einem Lachen nach: „Mit Links die ganzen Nachrichten zu beantworten wird aber eine ganze Weile dauern.“
Erst in einigen Wochen wird man absehen können, wann Degenkolb sein Comeback geben kann. Sein Team wird ihn schmerzlich vermissen, ist insgesamt von viel Verletzungspech geplagt. Auf ihren Roadcaptain in Topform muss das Team Picnic PostNL in jedem Falle eine ganze Weile verzichten. Denn die Form muss der 36-Jährige dann komplett neu aufbauen. An Trainingsmotivation wird es ganz sicher nicht fehlen, wenn er endlich wieder aufs Rad darf. „Das kann ich versprechen“, sagt Degenkolb zum Abschluss.

