Home Analyse Paris-Nizza 2022: 7 Erkenntnisse nach der „Fahrt zur Sonne“

Paris-Nizza 2022: 7 Erkenntnisse nach der „Fahrt zur Sonne“

Paris-Nizza bot ein interessantes Rennen mit einem packenden Finale. Hier die Erkenntnisse der 80. "Fahr zur Sonne".

Wout van Aert vor Primoz Roglic

1 Jumbo-Visma – als Team überragend

Als Team-Manager bei Jumbo-Visma findet man mehrere Foto-Motive im Paris-Nizza-Ordner, die man sich gern ins Büro hängen würde. Beispielsweise das Bild, wie sich Roglic und Van Aert in Nizza in den Armen liegen. Der dankbare Sieger mit dem überragenden Helfer, der das Gelbe Trikot bis nach Nizza schleppte. Oder der Dreifach-Sieg zum Auftakt – das Foto der drei Jumbo-Visma-Jungs jubelnd auf der Zielgeraden macht sich an der Wand hinter dem Chef-Schreibtisch sicher gut. Beispielsweise bei Sponsoren-Verhandlungen.

Das Team Jumbo-Visma hat bei Paris-Nizza beeindruckend abgeliefert, auch wenn am Ende nur drei Mann das Ziel erreichten. Mike Teunissen, Christophe Laporte, Rohan Dennis – diese drei zeigten, solange sie noch im Rennen waren, eine exzellente Vorstellung. Dazu ein Nathan Van Hooydonck, der vor allem zu Beginn beeindruckte. Drei Etappensiege, Gelb und die Sprintwertung – die Ausbeute ist beeindruckend.

Doch es brauchte das gesamte Team, um am Ende tatsächlich Gelb sicher nach Nizza zu tragen. Roglic wirkte am Schlusstag schlagbar und angezählt. Doch genau solche Siege sind es, die für einen besonderen Spirit sorgen. Dazu gehört auch, dass man zum Auftakt Laporte in seiner Heimat den Etappensieg und das Trikot überließ.

Das Team präsentierte sich als Mannschaft extrem stark, doch genau das wird beim Saisonhighlight Tour de France gefordert sein. Denn so wie es aktuell scheint, ist Tadej Pogacar Mann gegen Mann kaum zu schlagen. Und was Wout van Aert bei Paris-Nizza ablieferte lässt sich nur schwer beschreiben – er ist aktuell wohl der kompletteste Fahrer der Welt. Aufgrund seiner Kletterqualitäten vielleicht sogar noch stärker, als Sagan in seinen besten Jahren. Im Juli wird er sicher auf Grün fahren dürfen, nebenbei soll er noch Roglic nach Paris eskortieren. Auch wenn Roglic und Vingegaard die Männer für Grand-Tour-Siege sind, Wout van Aert ist Jumbo-Vismas wertvollster Fahrer.

2 Daniel Felipe Martinez – Unter Wert, aber neuer Leader?

Dass Daniel Felipe Martínez am Ende auf dem Podium stand, war mehr als verdient. Eigentlich hätte er sogar noch weiter oben stehen sollen. Denn hätte er auf der Schlussetappe nicht in einem ungünstigen Moment einen Platten gehabt, hätte …. hätte … hätte

Der 25-Jährige war bergauf extrem stark. Neben Simon Yates und Primoz Roglic der beste Kletterer. Am Schlusstag war er vielleicht sogar auf Yates-Niveau, oder gar darüber. Spekulieren bringt aber nichts. Der Kolumbianer galt früh als großes Talent (hier ein Text aus 2018) kam 2021 vom Team EF zu Ineos, half Egan Bernal den Giro zu gewinnen – unvergessen ist sein Auftritt als Bernals Abschleppwagen und wurde dabei selbst Gesamtfünfter!

Im Team Ineos war er bislang eher in der Helfer-Rolle, wäre für die Tour de France 2022 sicher vor allem als Helfer für Bernal eingeplant gewesen. Doch so stark, wie der Kolumbianer nun fährt, kann er vielleicht selbst aus einer freien Rolle die eigene Chance suchen, auch weil Bernal nach dem Unfall wohl nicht rechtzeitig in Form kommt. Das Ergebnis von Paris-Nizza zeigt nicht den echten Wert seiner Leistung, denn ohne den Defekt wäre noch mehr drin gewesen. Man darf gespannt sein, wann er in die Leader-Rolle rückt. Vielleicht schon in diesem Jahr.

3 Was ist da los? So viele Aufgaben wie selten!

Nur 59 Fahrer erreichten das Ziel Nizza. Sensationell wenig. Selbst bei der Corona-Austragung 2020 waren es mehr Fahrer, die am Ende in der Ergebnisliste standen. Grund sind neben schlechtem Wetten und einigen Stürzen vor allem zahlreiche Krankheitsfälle. Es scheint so, als hätten sich im Peloton während Paris-Nizza eine ganze Reihe von Fahrern angesteckt. So kurz vor dem ersten Monument und den anstehenden Klassikern natürlich unglücklich.

Auch Titelverteidiger Maximilian Schachmann erwischte es. Es kommt immer wieder mal vor, dass ein Virus bei einer Rundfahrt „durch das Peloton geht“. Solch extreme Häufung und so viele Ausstiege sind jedoch sehr ungewöhnlich.

4 Klassiker-Jungs auf Kurs

Paris-Nizza ist für viele Klassiker-Fahrer das letzte große Rennen um die Härte zu bekommen, und auch um den Standort zu bestimmen. Klar, in der Endabrechnung findet man eher die Rundfahrer und Kletterer vorn, aber man konnte vor allem in der ersten Hälfte des Rennens einen guten Eindruck gewinnen, wer bereits in guter Form ist. Man darf festhalten, viele der Top-Klassikerspezialisten sind in der Verfassung, wie man eine Woche vor Mailand-Sanremo sein sollte.

Mads Pedersen gewann eine Etappe, war zwei Mal Fünfter und ein Mal Zweiter. Seine Form scheint exzellent. Stefan Küng wurde Sechster am Schlusstag und beeindruckte erneut bergauf. Das macht ihn auch für die schwereren Pflaster-Rennen zu einem der Top-Favoriten. Sören Kragh Andersen lieferte ebenso starke Rennen ab und ist bereit für Klassiker. Sein DSM-Teamkollege John Degenkolb war auf der schweren 6. Etappe vorn dabei – auch er scheint besser in Form zu kommen, als beim Opening Weekend. Ähnlich Jasper Stuyven, der allerdings bereits zum Opening Weekend richtig stark fuhr. Über Wout van Aert muss man nicht sprechen, er ist unfassbar stark. Iván García Cortina präsentierte sich gut und mit ihm wird ebenso zu rechnen sein.

Allerdings konnten auch einige der Klassikerspezialisten das Rennen nicht beenden. Bei QuickStep-AlphaVinyl stiegen viele Fahrer vorzeitig aus, auch Nils Politt, Oli Naesen und Stan Dewulf beendeten das Rennen vorzeitig. Roubaix-Sieger Sonny Colbrelli musste mit Bronchitis aufgeben und wird nun nicht die optimale Vorbereitung haben. Bei diesen vielen Krankheitsfällen bei Paris-Nizza muss man abwarten, welche Folgen sich daraus ergeben.

5 Simon Yates – Giro-Aufbau im Plan

Bei seinem Saisonauftakt bei der Ruta del Sol wurde er Fünfter, nun bei Paris-Nizza als Zweiter auf dem Podium – die Saison für Simon beginnt sehr gut. Vor allem Paris-Nizza dürfte dem Briten Auftrieb und Selbstvertrauen geben. Das Zeitfahren war herausragend und auch bergauf ging es bereits sehr gut. Yates bereitet sich auf den Giro d’Italia vor und so wie er aktuell fährt, darf man ihm da einiges zutrauen. Läuft sein Aufbau weiterhin nach Plan, zählt er ganz sicher zu den Top-Favoriten auf den Girosieg.

6 Aurélien Paret-Peintre – auf dem Sprung

In die Top-10 bei Paris-Nizza schafften es auch zwei Franzosen: Cofidis-GC-Mann Guillaume Martin und Aurélien Paret-Peintre vom Team AG2R Citroen. Der inzwischen 26-jährige Paret-Peintre war Insidern schon vor einiger Zeit bekannt, so richtig auf den Radar der breiten Radsportbasis kam er dann erst im vergangenen Jahr. Da gewann er den Grand Prix Cycliste la Marseillaise und wurde Gesamtfünfzehnter bei der Tour de France. Paret-Peintre ist kein Senkrechtstarter, sondern eher ein Fahrer mit der früher typischen kontinuierlichen Entwicklung. In diesem Jahr fährt er stabil und stark. Achter in der Provence, Elfter bei Haut Var, nun Top10 bei Paris-Nizza. Es scheint so, als habe er noch einmal einen Schritt gemacht. So darf man auf die Ardennen-Klassiker gespannt sein. Im Sommer wird er auch wieder bei der Tour starten, wenn nichts dazwischen kommt.

7 Oh, Bora

Kein Fahrer beendete das Rennen. Nachdem Aleksandr Vlasov am Schlusstag stürzte und das Rennen aufgeben musste, entschied die Teamleitung auch den Rest der Mannschaft aus dem Rennen zu nehmen. Eine kluge Entscheidung, denn die im Rennen bis dahin verbliebenen endschnellen Männer hätten am Schlusstag ohnehin wenig ausrichten können. Dennoch ist die Ergebnisliste ohne Bora-hansgrohe-Fahrer symbolhaft für die bittere „Fahrt zur Sonne“ des deutschen Teams. Felix Großschartner brach sich das Schlüsselbein, die beiden Leistungsträger Maximilian Schachmann und Nils Politt zählten zu den vielen Fahrern, die mit Krankheit aufgeben mussten. Diese beiden Ausfälle sind für Bora-hansgrohe extrem bitter. Denn Schachmann, der in der Vorbereitung auf die Saison durch eine Coronainfektion zurückgeworfen wurde, fällt nun wieder aus und verliert Zeit für den Formaufbau. Bis zu den Ardennen-Klassikern ist es nicht mehr weit, was die Sorgen beim ohnehin gebeutelten Team erhöht.

Politt, der vor wenigen Wochen eine Bronchitis hatte, soll es nun ebenfalls mit Nebenhöhlenentzündung getroffen haben. Für den Kölner mit Blick auf die Pflaster-Rennen keine günstige Situation, für sein Team eine halbe Katastrophe, da andere Fahrer aus der Klassikerfraktion mit Corona zu kämpfen hatten.

Am Ende des Rennens dann auch noch der Sturz von Aleksandr Vlasov, der zu Beginn der Saison für die Top-Ergebnisse des Teams zuständig war. Bora-hansgrohe steckt nach dem Umbruch nun früh in der Saison in einer unglücklichen Phase, oder wie es Andreas Brehme einst so treffend formulierte: „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß!“ Zeit zu jammern bleibt nicht, jetzt hilft vor allem eins: Ärmel hoch, aber mit kühlen Kopf!

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