Home Analyse 5 Erkenntnisse nach Paris-Roubaix 2023

5 Erkenntnisse nach Paris-Roubaix 2023

John Degenkolb nach Paris-Roubaix 2023 (Foto: © Roth&Roth / CV)

1 Die Tränen des Champions, die Anerkennung der Fans

Es war einer dieser Radsportmomente, die man nicht so schnell vergisst. Sieger Mathieu van der Poel hatte das Ziel bereits passiert, sich von den Fans im Velodrom feiern lassen. Auch der Sprint zwischen Jasper Philipsen und Wout van Aert war unter tosendem Applaus gelaufen, die Verfolgergruppe um Filippo Ganna und Stefan Küng hatte die Runde absolviert und das Ziel erreicht. Dann bog John Degenkolb ins Velodrom. Vom Sturz gezeichnet, sein Gesicht drückte Schmerz und Enttäuschung aus. Es wurde wieder laut, im Velodrom – eine andere Geräuschkulisse, als beim Sieger, aber ähnlich laut. Degenkolbs eineinhalb Runden im Velodrom wurden von einer Welle des Applauses begleitet, die sich mit dem Ex-Champion durchs Oval bewegte.

Ein Gänsehaut-Moment, in dem die Zuschauermassen einem Champion ihren Respekt zollten, ihn für seinen Mut, seinen Siegeswillen und seinen Kampfgeist feierten. Degenkolb erreichte enttäuscht und unter Tränen das Ziel, er sank nach dem Zielstrich nieder, ließ den Emotionen freien Lauf. Keine Stunde später stand er im kleinen Rennbüro des Junioren Rennens, machte Fotos mit Fans und den Organisatoren der Junioren-Rennens, das er selbst vor wenigen Jahren vor dem Aus bewahrte. „Achtung, meine Schulter„, sagte Degenkolb Freunden, die ihn in den Arm nahmen. Die Enttäuschung war längst noch nicht gewichen, aber der Respekt und die Anerkennung, die ihm entgegengebracht wurden, schienen Balsam zu sein.

John Degenkolb war die tragische Figur in einem denkwürdigen Rennen. Ein blöder Rennunfall nahm ihm alle Hoffnung, nach einigen schweren Jahren wieder ganz vorn ins Velodrom zu fahren – das Podium war an diesem Tag sicher nicht unmöglich.

Sein Sieg 2015, der Tour-Etappensieg in Roubaix 2018, die Rettung des Junioren-Rennens, sein eigenes Pflasterstück und nun dieses Drama – die Karriere von John Degenkolb wird immer noch fester mit rauen Kopfsteinpflaster in Nordfrankreich verbunden.

John Degenkolb hat ein starkes Rennen geliefert, war am Ende der tragische Held – genau das sind die Geschichten, die den Radsport ausmachen, die man besonders auch in Frankreich liebt. Degenkolb hat die ganz große Chance verpasst, noch einmal in Roubaix auf dem Podium zu stehen, aber ganz sicher hat er sich in die Herzen vieler Radsportfans gefahren.

2 Mathieu vs Wout: 3:0

Der große Stein für Van der Poel, der kleine für Van Aert

Mathieu van der Poel hat an das nächste Monument einen Haken gemacht. Mailand-Sanremo und die Ronde van Vlaanderen hatte er bereits gewonnen, nun folgte Paris-Roubaix. Der Niederländer hat sich damit endgültig in die Reihe der allergrößten Radprofis der Geschichte gefahren. Dabei setzte sich Van der Poel auch jeweils gegen seinen Dauerrivalen Wout Van Aert durch. Nimmt man die Cross-WM hinzu, waren es drei ganz große Duelle in diesem Jahr, die allesamt Van der Poel für sich entschied.

Dieses Duell, das bei einigen Rennen dank Tadej Pogacar sogar zum Dreikampf wurde, bietet beste Unterhaltung und bringt dem Sport enorme Aufmerksamkeit. Es erinnert schon wenig an das alte Duell Boonen vs Cancellara – nur auf einem anderen sportlichen Niveau.

Für den Rest des Jahres werden Mathieu van der Poel und Wout van Aert eher selten als direkte Rivalen aufeinandertreffen, denn der Belgier hat in seiner Jumbo-Visma-Mannschaft andere (Helfer)Aufgaben als der Niederländer bei Alpecin-Deceuninck. Doch spätestens im Winter beginnt die Duell-Zeit der beiden Über-Crosser erneut. Für den Radsport ist dieses Duell ein Segen.


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3 Ach, Wout

Der Reifen platt – die Chance auf den Sieg schwindet – Van Aert muss Van der Poel ziehen lassen

Jumbo-Visma hat die Klassiker-Saison 2023 geprägt, zunächst sogar dominiert. Omloop Het Nieuwsblad, Kuurne-Brüssel-Kuurne, E3 Harelbeke und Gent-Wevelgem – sie eilten von Sieg zu Sieg. Doch als die beiden ganz großen Rennen kamen, jubelten andere Teams. In Flandern siegte Tadej Pogacar, in Roubaix Van der Poel. Bitter, vor allem für Wout van Aert.

Der Druck auf den Belgier war enorm, vor allem bei der Ronde. Doch er war nicht stark genug, um sich gegen Van der Poel und Pogacar durchzusetzen. Dazu gelang es dem Team nicht, die Breite des Kaders optimal auszuspielen. Bei Paris-Roubaix war es schlicht Defektpech, was ihm die Chance nahm. Wobei man den Eindruck bekam, dass die Mannschaft Jumbo-Visma besonders viel mit Reifenschäden zu kämpfen hätte. Dass Christoph Laporte aus der Gruppe der Favoriten nach einem Defekt im Wald von Arenberg fiel, war auch in Sachen Taktik bedeutungsvoll. Denn Van Aert hatte keinen Helfer mehr bei sich, während Van der Poel mehrere hatte. Ganz sicher wird man in die Material-Analyse gehen.

Für Van Aert ist Rang drei in Roubaix ein gutes Ergebnis, doch sein Ziel war der Sieg und er wirkte auf Augenhöhe mit dem Sieger. Seine großen Ziele im Frühjahr waren die beiden Monumente, wo es eben nicht zum Sieg reichte. Im Radsport gilt, dass die großen Sportler eben auch an den ganz großen Siegen gemessen werden – da fehlen weiterhin die beiden Pflaster-Monumente. Vor allem in Belgien ist dies von großer Bedeutung und Ex-Champions und TV-Experten werden nicht müde, darauf hinzuweisen.

Im nächsten Jahr wird Van Aert den nächsten Anlauf nehmen, dann im Alter von 29 Jahren. Ihm bleiben noch einige Chancen, doch der Druck wird nicht kleiner werden.


4 Soudal-QuickStep – Roubaix als Sinnbild der Klassikersaison

Kasper Asgreen

Der Abschluss der Pflaster-Klassiker-Saison spiegelt den gesamten Verlauf der für das Team so wichtigen Saisonphase wider – Soudal-QuickStep war bei Paris-Roubaix kein Faktor im Rennen. Man war mit sich selbst beschäftigt, kämpfte mit Defekten und war nie in der Lage, das Rennen zu gestalten und zu prägen. Mit mehr als fünfeinhalb Minuten Rückstand auf den Sieger rollten Tim Merlier und Yves Lampaert auf den Rängen 23 & 24 ins Ziel.

Über Jahre war das belgische Team die Pflaster-Equipe – man prägte die Rennen, fuhr von Sieg zu Sieg. Im vergangenen Jahr lief es nicht gut, was aber auch mit vielen Covid-Infektionen zusammenhing. In dieser Saison war man schlicht nicht stark genug. Weder in der Spitze, noch in der Breite. Tim Merlier hatte bei Nokere Koerse den einzigen Sieg eigefahren – bei den großen Rennen gelangen sonst keine Top-Platzierungen.

Der Fokus des Teams hat sich verschoben, mit Remco Evenepoel hat man einen GrandTour-Sieger in den eigenen Reihen, der auch in Zukunft für große Erfolge sorgen kann. Doch die Teamleitung um Patrick Lefevere muss sich Gedanken darüber machen, welche Bedeutung die Pflaster-Rennen in Zukunft haben sollen. Will man in der kommenden Saison wieder zu den rennprägenden Teams gehören, muss man wohl auch personell nachlegen, auch wenn Julian Alaphilippe und Kasper Asgreen zu alter Stärke zurückfinden. Oder startet man das Projekt „Remco aufs Pflaster“? Vermutlich eher nicht so schnell.

Man darf gespannt sein, wie die Analyse des Teamchefs nach den Ardennen-Klassiker ausfallen wird. Lefevere ist als Mann markiger Worte bekannt, diese werden kommen – ob dann auch Taten folgen, bleibt abzuwarten.

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5 Ein Sensationelles Frauen-Rennen, die Fanstimmung hat noch Luft nach oben

Das Rennen der Frauen am Samstag bot beste Unterhaltung. Eine große Gruppe, die nicht mehr eingeholt wurde. Eine extrovertierte Siegerin, die eher als Außenseiter ins Rennen ging und dann den Emotionen freien Lauf ließ. Sturzdramen, Spannung und ein toller Sprint im Velodrom – es war wirklich ein tolles Rennen. Man hatte die Strecke etwas verändert – einer Fluchtgruppe mehr Strecke geboten, bevor die Pflastersektoren begannen. Das wirkte sich direkt aus.

Doch die Stimmung im Velodrom war nicht ganz so toll, wie bei den ersten beiden Austragungen. Es waren gefühlt deutlich weniger Menschen im Radstadion, so nahmen es auch andere Journalisten wahr. Die sorgten für Stimmung, aber das Rennen war offenbar insgesamt nicht ganz so gut besucht, wie zuletzt. War das Wetter zu gut? Lag es an den Oster-Feiertagen? Ganz schwer einzuschätzen.

Für eine Diskussion über eine möglicherweise gesunkene Begeisterung ist es sicher zu früh. Ob es ein Beleg dafür ist, dass es insgesamt besser wäre, die Rennen der Frauen und die der Männer an einem Tag auszutragen, ist ebenso fraglich. In Sachen Zuschauer und Stimmung wäre das vielleicht tatsächlich besser, logistisch allerdings bei einem Rennen wie Paris-Roubaix aber sicher ein erheblicher Aufwand und man müsste das Junioren-Rennen verlegen. Zudem schafft die Trennung der Rennen die Chance, dem kompletten Rennen mehr Aufmerksamkeit zu bescheren. Die nächsten Jahre werden zeigen, wohin sich das Frauen-Roubaix entwickelt – sehr unterhaltsam waren alle drei Austragungen, die von diesem Jahr ganz besonders – in Sachen Stimmung ist noch etwas Luft nach oben.

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