Zeit, Stärke zu zeigen

So unterschiedlich die Stürze von Fabio Jakobsen, Emu Buchmann, Remco Evenepoel und Maximilian Schachmann auch waren, es ist richtig, dass sie Diskussionen auslösen. Klar, nach solchen schlimmen Unfällen berichten selbst Mainstream-Medien über Radsport und der reflexhafte Aufschrei ist ebenso groß, wie schnell abgeebbt. Seit Jahren wird beteuert, dass es Zeit ist, dass sich etwas verändert. Passiert ist wenig.

Dennoch – nie war die Zeit für Veränderungen so gut, wie heute! Das Problem der Abhängigkeiten im Radsport ist hinlänglich bekannt. Die UCI weiß, wie finanzielle Einnahmen die Sicht auf Widrigkeiten trübt, die Teams sind solange solidarisch und kompromissbereit, bis sie selbst ums nackte Überleben kämpfen und die Fahrer rufen laut nach Stärke und Einigkeit, tun sich dann aber aus Angst vor Job-Verlust und Schwierigkeiten schwer, konsequent zu agieren. In jedem einzelnen Fall ist das nachvollziehbar, doch das Gemisch daraus ist verheerend.

Nun, da durch die Folgen der Coronapandemie plötzlich alle in Schwierigkeiten sind und jedem einzelnen in dieser Radsportwelt klar ist, dass er ohne den anderen nix wert ist, können vielleicht auch die Fahrer mutiger auftreten. Eine zahnlose CPA als Fahrervertretung scheint längst überholt.

Es ist Zeit, etwas zu ändern, aber dabei sind vor allem die älteren Fahrer gefordert. Eben genau die, die ihre Schäfchen im Trockenen haben und nicht mehr 10 Jahre Profi-Zeit vor sich. Sie haben das Standing und die Kraft, die Aufmerksamkeit und die Erfahrung um etwas durchzusetzen. Wenn sie vorangehen, werden sie Unterstützung erhalten, überall, auch von den Radsport-Medien. Am großen Spektakel sind die großen Boulevard-Mainstream-Medien interessiert, an einem gesunden Sport aber ausreichend andere Multiplikatoren.

Vielleicht passiert nun wirklich etwas. Vielleicht, diesmal.


Martinez und die Tour

Die Umstände, unter denen Daniel Martinez das Critérium du Dauphiné gewonnen hat, sollten diesen Erfolg nicht schmälern. Klar, mit Roglic, Buchmann, Bernal und Kruijswijk sind einige der absoluten Top-Fahrer früh ausgeschieden, dennoch war reichlich Konkurrenz am Start.

Als großes Talent gilt der EF-Profi schön länger – hier ein CM-Text aus dem Jahr 2018. Stark gefahren ist er oft, wenn auch meist in der Rolle des Helfers. Das war schon in der U23-Klasse so, als er bei der Tour de l’Avenir für Egan Bernal arbeitete. Nun steht dieser ganz große Sieg in seinen Palmares und er wird nicht mehr übersehen, wenn es um Favoriten für große Rennen geht.

So stark, wie sich Martinez präsentierte, darf man ihm auch bei der Tour eine Überraschung zutrauen. Der 62-Kilo-Mann ist in den Bergen schwer abzuhängen. Dazu kann er sich festbeißen wie sein Teamkollege Rigoberto Uran. Zeitfahren ist vielleicht nicht seine Lieblingsdisziplin, aber mit nur einem TT (zudem bergig) muss er die Tour nicht fürchten. Um ihm nicht Unrecht zu tun – er ist ein sehr ordentlicher Zeitfahrer! Nicht auf dem Niveau von Roglic, Dumoulin oder Froome, aber nur wenig dahinter.

Für Martinez gilt es, die erste Woche zu überstehen, aber die ist in diesem Jahr ohnehin keine Kamikaze-Sprinter-Woche, sondern direkt anspruchsvoll und bergig. Auch das ist gut für Martinez. Die möglichen Wind-Etappen in Frankreichs Westen hingegen dürfte er fürchten.

Martinez wollte schon immer GC-Fahrer werden. Sein Teamchef Jonathan Vaughters bescheinigte ihm ein ähnliches Potenzial wie Egan Bernal. Nach dem Sieg bei der Dauphine dürfte das Selbstbewusstsein nochmals gewachsen sein.

Mit Uran und Higuita hat er exzellente Kletterer an seiner Seite. Dazu nimmt Rigo den Druck und kann auch außerhalb des Rennens unterstützen.

Dieser Daniel Felipe Martínez ist kein Top-Favorit auf den Gesamtsieg der Tour de France 2020, aber überrascht sollte niemand sein, wenn der Kerl in den Top-10 landet. Kommt er gut durch und läuft alles perfekt, sind auch die Top-5 drin. Und dann ist es auch nicht mehr weit bis zum Podium.



Wachablösung vollzogen

Es ist soweit. Jahre haben wir darauf gewartet, nun gibt es ein Team, das die Sky-Dominanz für beendet erklärt. Die historische Phase, als die britische Mannschaft mit unfassbarem Budget eine Truppe zusammenkaufte, die jedes Rennen ersticken konnte, ist vorbei. Im Radsport-Geschichtsunterricht wird man vom „Sky-Jahrzehnt“ sprechen. Mit Wiggo, dem Eroberer, Froomey, dem Staatsherren, „G“, dem Gladiatoren und Egan, dem Kronprinzen. Alles aus und vorbei.

Beendet wurde die Epoche von der Flachland-Bergmacht aus den Niederlanden. Es sind die gelben Jumbo-Visma-Trikots, die in den Bergen das Tempo vorgeben und der Konkurrenz bei 6 Watt/kg das Laktat aus den Ohren quellen lassen. Mit Kapitän Primoz steuert der gelbe Bulldozer durch die Alpen. Bennett, Kuss und Dumoulin stampfen alles nieder, was sich in den Weg stellt. Der Rest darf zuschauen und staunen.

Ist das alles nur ein schlechter Traum von Dave Brailsford, oder bereits Wirklichkeit? Bei der Tour wird sich der Ineos-Teamchef pieksen lassen, dann sieht er, ob er nur schlecht geträumt hat.


Vlasov, ungebremst

24 Jahre alt, ist Aleksandr Vlasov. Nach einigen Jahren bei Gazprom-Rusvelo ist er nun beim World-Tour-Team Astana unter Vertrag. Er hat den Baby-Giro gewonnen, Ausrufezeichen bei kleineren Rennen gesetzt und mischt nun die World-Tour auf.

Der Russe kommt nicht plötzlich empor, er hat eine stetige Entwicklung genommen. Sich bei Gazprom in jedem Jahr weiterentwickelt und dazugelernt. Vlasov stammt aus Vyborg, im Norden Russlands nahe der finnischen Grenze. Wie viele russische Talente ging er früh nach Italien und entwickelte sich dort.

Über den jungen Russen ist bislang wenig bekannt, vor allem seine Ergebnisse sprechen für sein großes Talent. In diesem Jahr hat er sich in die Weltelite gefahren, bei Il Lombardia nachdrücklich bewiesen, was er drauf hat. Als kompletter Fahrer mit hohem GC-Potenzial darf man gespannt sein, was er beim Giro oder der Vuelta zeigen kann. In diesem Jahr wird er wohl noch Helfer sein, ist schließlich noch keine Grand Tour gefahren. Nimmt er weiter solch eine beeindruckende Entwicklung, zählt er bald zu den ganz, ganz Großen!


Löst Sivakov das ungewohnte Ineos-Problem?

Beim Team Ineos war es stets eine große Stärke, dass man mehrere potenzielle Sieger an den Start der Tour brachte. Wiggo & Froomey, Froomay & G, G & Froomy & Egan – immer hatte man einen Plan B.

In diesem Jahr scheint es jedoch so, dass keiner der Top-Stars in der Lage ist, die Tour zu gewinnen. Bernal musste mit Rückenproblemen die Dauphine verlassen, zuvor war er gegen Roglic chancenlos. Geraint Thomas betont zwar, dass die Wattwerte super sind, er nur ein Kilogramm zu viel auf den Rippen hat. Schwer zu glauben, wenn er stets vor dem letzten Anstieg abgehängt wird.

Und Froome kämpft nach seinem Horror-Sturz 2019 verbissen um die Form. Man muss großen Respekt vor seinem Kampfgeist haben, aber vom Toursieg scheint er derzeit mehr als 2–3 intensive Trainingseinheiten entfernt.

Wer also soll Plan B sein, falls Bernal überhaupt als Kapitän in Frage kommt? Vielleicht Pavel Sivakov – der französische Russe! (–> CM-Text aus 2018).

Sivakov wirkt ein bisschen wie Indurain früher – groß, stark, stoisch. Clever ist er allemal, in Form sowieso. Aber traut man sich bei Ineos, den 23-Jährigen als zweiten Mann neben Bernal durchzusetzen? Eine Frage, die sich nicht beantworten lässt. Abzuwarten, wie „G“ & Co ins Rennen finden, dürfte bei diesem Parcours, mit anspruchsvollen Etappen gleich zu Beginn, keine Option sein. Beim Critérium du Dauphiné war Sivakov der mit Abstand stärkste Ineos-Fahrer. Man darf gespannt sein, welche Rolle man ihm für die Tour gibt.

Zur Erinnerung: Sivakov war Gesamtneunter des Giro 2019