Die Schlusswoche des Giro d’Italia ist brutal schwer. Drei Bergetappen, ein Bergzeitfahren – satte 15.000 Höhenmeter auf vier Tage verteilt. Rom scheint nah, aber doch so weit. In Rosa startet Bruno Armirail in diese Schlusswoche. Er hat es selbst gesagt: Er wird es wohl sehr bald abgeben müssen. Vermutlich schon am Dienstag. Dahinter ist es immer noch extrem eng, im Gesamtklassement.

Ein Favoritentrio, Caruso und Außenseiter

Geraint Thomas, Primoz Roglic und Joao Almeida liegen in Lauerstellung – nur eine Minute hinter Armirail, keine 30 Sekunden auseinander. Es ist so eng, man kann sagen, sie gehen nahezu gleichauf in die Schlusswoche. Dahinter liegt Andreas Leknessund, der sich bravurös schlägt, aber vermutlich an den ganz schweren Pässen nicht mithalten kann. Damiano Caruso auf Gesamtrang fünf hat etwa 1:30 min Rückstand auf Geraint Thomas. Ihn sollte man nicht abschreiben, ist er doch gerade in Woche drei meist sehr stark.

Alle weiteren Fahrer haben bereits mehr als zwei Minuten Rückstand und scheinen nicht auf Augenhöhe mit Thomas, Almeida und Roglic. Wobei Eddie Dunbar bislang einen starken Giro fährt, aktuell nur zweieinhalb Minuten hinter Thomas liegt.

Top-Kletterer Hugh Carthy ist bereits mehr als drei Minuten zurück – er bräuchte schon eine unglaubliche Schlusswoche um in den Kampf um Rosa noch eingreifen zu können.


Was spricht für Geraint Thomas & was gegen ihn?

Geraint Thomas hat die beste Ausgangslage, ist aber nicht unbedingt der Top-Favorit. Denn sein Team ist bereits dezimiert, dazu ist er weniger explosiv, als Roglic. Das kann durchaus von Bedeutung sein. Thomas ist inzwischen 36 Jahre alt, im direkten Vergleich zu Roglic nicht der Favorit, schaut man sich die Leistungen in der jüngsten Vergangenheit an. Mit Tao Geoghegan Hart und Filippo Ganna hat das Team zwei wichtige Fahrer verloren. Pavel Sivakov ist mehrfach gestürzt, scheint nicht in Top-Verfassung zu sein. Jumbo-Visma und Bahrain Victorious sind noch vollzählig im Rennen.

Doch auf der mentalen Ebene ist Thomas klar im Vorteil. Er hat in seiner langen Karriere extrem viel erreicht, den Toursieg in der Tasche. Er hat knifflige Situationen gemeistert, fast alles schon erlebt, was man während einer Grand Tour erleben kann. Er muss niemandem etwas beweisen, außer sich selbst. Er wirkt extrem entspannt, cool. Es ist nicht zu erwarten, dass er sich zu unüberlegten Manövern hinreißen lässt, oder verunsichern, sollte etwas schiefgehen.

Dazu wirkt er in diesem Jahr extrem stark. Kein Rennen fuhr er als Kapitän, wirkte nie wirklich am Limit. Auch bei diesem Giro machte er stets den Eindruck, als hätte er Reserven. Wie gut ist er wirklich, wenn es lange steil hinauf geht? Wir wissen es schlichtweg nicht. Er hat seine Karten noch nicht auf den Tisch gelegt und man könnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass seine Ruhe und Gelassenheit auch durch das Wissen um seine exzellente Form bestärkt werden. Geraint Thomas mag nicht der Top-Favorit vor dieser Schlusswoche sein, doch man sollte ihn keineswegs unterschätzen. Roglic muss ihn abhängen, will er sich Polster vor dem Bergzeitfahren verschaffen. Das könnte schwerer werden, als man angenommen hatte.

Zudem ist Ineos Grenadiers in der Lage, Druck auf Jumbo-Visma und UAE aufzubauen. Denn mit Thymen Arensman und Laurens De Plus hat man zwei weitere Fahrer in den Top10 der Gesamtwertung! Gehen diese in die Offensive, muss die Konkurrenz reagieren, die Helfer aufopfern.



Was spricht für Primoz Roglic & was gegen ihn?

Nur zwei Sekunden liegt Roglic hinter Geraint Thomas, fühlte sich in Woche zwei sehr wohl damit, nicht in Rosa zu sein. Weniger Interviews, weniger Verpflichtungen, mehr Erholung. Perfekt für Roglic. Er selbst wirkt sehr stark, war im Zeitfahren nicht weit weg von der Konkurrenz – 16 Sekunden langsamer als Thomas.

Vor dem Giro war das Team Jumbo-Visma sehr von Covid-Fällen gebeutelt, musste mehrfach den Kader umstellen. Doch während des Giro hatte man bislang keine Ausfälle zu beklagen. In der Schlusswoche kann man aus den Vollen schöpfen. Das kann durchaus wichtig werden, will man Geraint Thomas isolieren und dann angreifen.

Für Roglic spricht auch seine Qualität, die er in diesem Jahr eindrucksvoll unter Beweis stellte. Zwei Rennen fuhr er, zwei gewann er. Auch gegen starke Konkurrenz. Roglic scheint topfit, wirkte bei diesem Giro nur in den Zeitfahren etwas weniger stark. Seine Explosivität sollte ihm gerade gegen Thomas helfen. Auf den letzten Metern einer Bergetappe wird er im Sprint dem Briten vermutlich ein paar Meter abnehmen können. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass Roglic die Entscheidung im Kampf um den Gesamtsieg auf das letzte Zeitfahren vertagen will. Die Tour de France 2020 wird er nicht komplett verdrängt haben können.

Primoz Roglic ist bislang exzellent durch diesen Giro gekommen, wirkt extrem stark und ist der Top-Favorit auf den Gesamtsieg. Doch er darf keine Fehler machen, muss das Rennen auch taktisch clever gestalten und idealerweise direkt am Dienstag einen Vorsprung herausholen. Dann kann sein Team das Rennen kontrollieren und er vielleicht dank seiner Explosivität noch einen weiteren Puffer auf die Konkurrenz aufbauen – vor dem Zeitfahren am Samstag.

Für Roglic gilt es gesund zu bleiben, und nicht zu stürzen. Zu oft schon hat Roglic Rennen wegen Stürzen verloren, ist dafür bekannt, in kniffligen Situationen Risiko zu nehmen. Je früher er einen kleinen Vorsprung in der Gesamtwertung hat, desto mehr Ruhe kann ihm das geben.

Was spricht für Joao Almeida & was gegen ihn?

Im Finale der 15. Etappe ging Joao Almeida in die Offensive. Ein satter Antritt, der die Favoritengruppe sprengte. Am Ende gab es keine großen Abstände, aber gut möglich, dass dies ein Vorgeschmack auf die nächsten Tage war. Der Portugiese präsentiert sich bislang exzellent. Er war gut im Zeitfahren, stets an der Seite der anderen Favoriten und nun zeigte er sich sogar offensiv. Das kommt beim Portugiesen nicht allzuoft vor.

Joao Almeida fährt bislang einen sehr guten Giro. Er scheint in exzellenter Form zu sein und hat ein starkes Team an seiner Seite. Dass er selbst in die Offensive geht, spricht dafür, dass er sich exzellent fühlt. Almeida ist ein Fahrer, dem das letzte Zeitfahren dieses Giro sehr liegen könnte. Bergauf ist er extrem stark, kann sich super quälen und auch bei längeren Zeitfahren am Ende einer Grand Tour die maximale Leistung herausholen. Die Konkurrenz wäre gut beraten, vor dem Zeitfahren die Chance zu nutzen, den Vorsprung auf Almeida auszubauen – sofern sie sich bietet.

Angreifbar ist Almeida bergab. Er macht in kniffligen Abfahrten nicht den sichersten Eindruck, hat schon mehrfach den Anschluss an die schnellsten Abfahrer verloren. Das weiß die Konkurrenz und wird versuchen, dies zunutze zu machen. Selbst wenn es nach einer Abfahrt nur 30 Sekunden sind, die aufgeholt werden müssen – bei einer Grand Tour zählt jedes Korn, was man sparen kann. Erst recht in Woche drei. Sein starkes Team kann dort sehr hilfreich sein. Brandon McNulty hat seinen Etappensieg eingefahren und wird sich voll in den Dienst stellen, Jay Vine scheint nun auch wieder besser in Tritt zu kommen. Davide Formolo ist stets solide unterwegs.

Bleibt Joao Almeida ohne schwachen Tag und gesund bis zum letzten Tag, ist nicht nur das Podium möglich.


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Was spricht für Damiano Caruso & was gegen ihn?

Und wieder ist er der Ersatz-Kapitän. Damiano Caruso war schon 2021 als Helfer in den Giro gegangen und hatte dann die Rolle des Kapitäns übernommen. Am Ende wurde er Gesamtzweiter. Auch in diesem Jahr war sein Team mit Jack Haig als Kapitän ins Rennen gegangen, hatte zudem Santiago Buitrago und eben Caruso als Co-Leader dabei. Alle drei sind noch im Rennen, doch anders als Caruso haben Haig und Buitrago bereits mehr als sechs Minuten Rückstand auf Geraint Thomas. So ist Damiano Caruso der Mann, der für Bahrain Victorious die GC-Platzierung einfahren soll.

Caruso ist 35 Jahre alt, hat alles im Radsport gesehen und erlebt. Dieser Giro ist seine 17. Grand Tour. Für unterschiedliche Kapitäne war der Italiener der Edelhelfer – allerdings war er noch nie Teil eines Teams, das eine große Rundfahrt gewonnen hat!

Damiano Caruso bringt wenig aus der Ruhe, sieht er jedoch eine Chance, versucht er sie zu nutzen. Gegen Thomas, Roglic und Almeida ist er der Außenseiter. Bergauf vermutlich nicht ganz so stark, im Zeitfahren auch. Aber er ist ein zäher Bursche und scheut das Risiko nicht. Früh angreifen, darauf hoffen, dass die Konkurrenz sich uneinig ist – das könnte eine Strategie sein.

Caruso muss nicht Fünf absichern, für sein Palmares oder UCI-Punkte. Im Gegenteil – lieber zwei Positionen riskieren, als eine Chance auslassen. Bei diesem Giro scheint viel möglich, wer weiß, was alles noch passiert. Mann gegen Mann wird es Caruso sehr schwer haben, das Trio vor ihm abzuhängen und die rund 1:30 min gutzumachen. Doch in einer langen Abfahrt gemeinsam mit Santiago Buitrago attackieren, wenn voraus vielleicht ein weiterer Helfer wartet – dann schiebt sich die Konkurrenz den Schwarzen Peter vielleicht gegenseitig zu. Vielleicht ist Caruso sogar ein belebendes Element dieses Giro. Ohne Fehler der Konkurrenz wird er diesen Giro wohl nicht gewinnen können, doch außer Acht sollte man diesen Routinier nicht lassen.

Wer ist also der Top-Favorit?

Lennard Kämna sagte am Ruhetag, dass Tao Geoghegan Hart auf ihn bis zu seinem Ausscheiden den stärksten Eindruck machte. Auch Joao Almeida hob Kämna hervor. Er mache ebenfalls einen guten Eindruck. Mit dieser Beobachtung steht Kämna nicht allein da. Eine echte Prognose fällt nicht leicht, dafür wurden die Bergetappen bislang nicht offensiv genug gefahren.

Kommen alle drei Top-Favoriten fehlerfrei durch, könnte es sich am Ende im Zeitfahren zwischen Primoz Roglic und Joao Almeida entscheiden – so stark wie sich Almeida zuletzt präsentierte, kann es dann auch zu seinen Gunsten ausgehen.

Roglic wird sich am Dienstag vielleicht das Rosa Trikot holen, dann muss er das Rennen kontrollieren. Gelingt es Thomas seine Erfahrung auszuspielen und Roglic & Almeida erfolgreich unter Druck zu setzen, könnte auch der Routinier am Ende ganz oben stehen. Oder gibt es eine ganz große Überraschung? Auch nicht unmöglich. Roglic hat bereits Grand Tours gewonnen, das bringt ihn vielleicht knapp in die Top-Favoritenrolle, Almeida knapp dahinter. Dann geht Thomas als Favorit Nummer drei in die Schlusswoche.