Wer bei der Tour de France an der Spitze mitfahren will, muss schon im Training hoch hinaus. Daher stürmen nicht nur die Gesamtklassementfahrer und deren Helfer, sondern auch Sprinter und Puncheure die Gipfel – beim Höhentraining. Fürs CyclingMagazine erklärt Sportwissenschaftler Kristof de Kegel was hinter Höhentrainingslagern steckt.
Je höher man steigt, desto dünner wird die Luft. Diese Business-Redewendung hat einen realen Hintergrund. Denn das Atmen fällt einem Menschen in höhere Lagen ab rund 1500 Meter spürbar schwerer. Da unser Organismus intelligent ist, passt er sich an und wird leistungsfähiger. Diesen Effekt machen sich seit Jahrzehnten Ausdauersportler bewusst zunutze, indem sie Trainingslager in alpinen Höhen absolvieren.
Meist an Orten, die höher als 2000 Meter liegen, wie am Vulkanberg Teide in Teneriffa, der Sierra Nevada Spaniens, den französischen Alpen, Andorra, Sankt Moritz, Livigno oder in Utah sowie Colorado. Inzwischen Hotspots für Radprofis. Kaum ein Profi-Radteam verzichtet noch auf Höhentrainingscamp. Auch das die belgische Equipe Alpecin-Deceuninck um Mathieu van der Poel und Jasper Philipsen geht mehrfach in die Höhe.
Je mehr Sauerstoff der Athlet den arbeitenden Muskeln zuführen kann, desto länger können diese aerob arbeiten
Kristof de Kegel
Warum? „Weil dort oben auf ganz natürliche Weise die Umgebung den Organismus anregt, mehr rote Blutkörperchen zu bilden“ , erklärt Kristof de Kegel, Sportwissenschaftler und Head of Performance beim Profi-Radteam Alpecin-Deceuninck. Mit der Umgebung meint er die Höhe, denn dort nimmt der Mensch aufgrund des verminderten Luftdrucks weniger Sauerstoff pro Atemzug auf.
Die Luft wird im Übrigen nicht dünner, denn es ist nicht weniger Sauerstoff in der Luft wie vielfach angenommen. Tatsächlich wird per Atemzug weniger Sauerstoff aufgenommen, der sogenannte Sauerstoffpartialdruck fällt. Normalerweise nimmt ein Mensch bei einem Atemzug auf Meereshöhe rund 21 Prozent auf; auf 2500 Metern sind es weniger als 16 Prozent. Den Sauerstoffmangel, der in der Höhe durch den verminderten Luftdruck herrscht, versucht der Organismus also zu kompensieren, indem er sich anpasst.
Kristof de Kegel im Interview – Was Hobbyradsportler beim Thema Höhentrainingslager beachten sollten
Genau um diese physiologische Besonderheit geht es vorrangig bei solch einem Aufenthalt in der Höhe. Die Produktion von roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff transportieren, wird angeregt, da das Hormon Erythropoetin ausgeschüttet wird.
Das führt dann wiederum zu einer verbesserten Sauerstofftransportkapazität. In der Welt der für Athleten so wichtigen physiologischen Parameter verbessern sich oft nach einem Aufenthalt in der Höhe die maximale Sauerstoffaufnahmekapazität sowie die individuelle anaerobe Schwelle.
Dieses Mehr an Sauerstoff verbessert die Leistungsfähigkeit eines Profis ungemein. „Je mehr Sauerstoff der Athlet den arbeitenden Muskeln zuführen kann, desto länger können diese aerob arbeiten. Je länger ein Sportler sich in seinem aeroben Bereich bewegt, desto besser wird seine Leistung am Ende sein und er spart sich die anaerobe Kapazität für den Endspurt“ , so de Kegel. Kurzum der Profi ist im Rennen ganz einfach energiesparender unterwegs, fährt länger auf Fett und kann sich die imitierten Kohlenhydrate für die Attacken oder das Finale aufsparen.
Studien und Experten sprechen von einem Gewinn von drei bis zu acht Prozent an Leistungsfähigkeit durch ein solches Trainingslager in der Höhe, wobei in der Höhe gelebt und geschlafen, aber nicht oder nur für ganz kurze Zeit trainiert wird. „Die Trainingsqualität leidet zum Beispiel, wenn man konstant über 2 000 Metern bleibt. Der Nettoeffekt auf die Leistung wird nicht groß sein. Aus diesem Grund wurde ein „live high, train low“-Konzept adaptiert. So werden die allgemeinen Effekte des Trainings mit denen der Höhe kombiniert“ , so de Kegel.
Das bedeutet geschlafen und gewohnt wird in der Höhe – am besten zwischen 2000 und 3000 Meter über dem Meer, Rennrad gefahren wird im Tal. So kann unter normalen Bedingungen trainiert und wie gewohnt die Intensitäten gesteuert werden. Um den gewünschten Reiz zu setzen, müssen Sportler nach dem Training dann Höhenluft schnuppern – im Idealfall für 16 bis 20 Stunden pro Tag.
18 bis 21 Tage auf 2.000 bis 2.200 Metern sind eine Art Standard-Richtwert für ein Höhentrainingslager
Kristoff De Kegel
Das Team Alpecin-Deceuninck schlägt seine „Zelte“ in La Plagne in den französischen Alpen auf. Andere Teams bevorzugen Teneriffa genauer den Vulkanberg Teide oder die Sierra Nevada in Spanien. „Das Wichtigste ist, dass man immer einen Ort wählt, in dessen Umgebung die Straßen intakt sind und wo die Sportler auf 2.000 bis 2.200 Metern wohnen können“, sagt de Kegel, der fürs das Höhentrainingslager bei Team Alpecin-Deceuninck verantwortlich ist.
„18 bis 21 Tage auf 2.000 bis 2.200 Metern sind eine Art Standard-Richtwert für ein Höhentrainingslager, aber die meiste Zeit über machen wir etwa 12 bis 16 Tage am Berg und die Fahrer verbringen vorher vier bis sechs Anpassungstage zu Hause in einer hypoxischen Kammer oder einem Zelt“ , so de Kegel weiter. Denn in die Höhe zu fahren und sofort mit dem Training zu beginnen, funktioniert nicht. Der Organismus benötigt Zeit zur Eingewöhnung.
Durch diese Tage zuhause unter ähnlichen simulierten Bedingungen wie in der Höhe erspart den Fahrern so unnütze Tage im Trainingslager, an denen sie sonst wenig, bis nichts machen würden. „Wir können so direkt von Tag eins an beginnen – die typische Eingewöhnungsphase entfällt“ , so de Kegel. Und die mentale Belastung ist auch geringer, da die Fahrer nicht so lange von zu Hause weg sind.
Timing ist übrigens (fast) alles, wenn es um den Erfolg ein Höhentrainingslager geht. Nicht nur während des Trainings, sondern auch davor – also wann genau solch ein Camp überhaupt stattfindet. Denn der Organismus benötigt Zeit zur Anpassung.
„Die Reaktion der Fahrer ist zwar immer individuell. Im Allgemeinen besagt die Theorie, dass das Risiko einer negativen Leistung, die noch niedriger als vor dem Höhenlager ist, in einem Zeitfenster von vier bis neun Tagen nach der Höhe am höchsten ist“ , sagt de Kegel. Das eröffnet aber auch die Möglichkeit, den ersten Turbo zu nutzen und direkt aus der Höhe zu kommen und Rennen zu fahren: Also in den ersten ein bis drei Tagen, wie das Wout van Aert vergangenes Jahr im Frühjahr bewiesen hat.
Für die Tour de France-Startern ist allerdings der Langzeiteffekt wichtiger: „Vom 10. Tag nach der Höhe bis zum 28. Tag werden die Sportler wahrscheinlich auf einem sehr guten Niveau sein“ , sagt de Kegel räumt aber auch ein, dass „Sportler und Coach herausfinden müssen herausfinden, was individuell am besten funktioniert.“
Dabei hilft ein Monitoring, das bei einem Höhentrainingslager noch einen größeren Stellenwert einnimmt als sonst beim Training. Denn der Körper ermüdet schneller, da die Höhe einen zusätzlichen Reiz darstellt. Um festzustellen, wie stark der Körper durch das Training beziehungsweise die Belastung durch die Höhe beansprucht wird, gibt es tägliche Check-ups:
„Die Überwachung der Sauerstoffsättigung zusammen mit Herzfrequenzvariabilität, Morgenpuls, Blutdruck am Morgen sowie dem Flüssigkeitsstatus in Kombination mit dem Gewicht ein sehr wichtiger erster Schritt, damit man eine Vorstellung davon bekommt, ob der Gewichtsverlust ein Ergebnis mangelnder Flüssigkeitszufuhr oder zu niedriger Energiezufuhr ist“ , erklärt de Kegel-
Indem er all diese Parameter sowie die Trainingsdaten zusammenfügt werden, bekommen er und sein Trainer-Team eine Vorstellung davon, wie wie viel den Profis bim Training abverlangt werden kann und wo gegebenenfalls auch substituiert werden muss mit Mineralstoffen und Vitaminen, die für die Blutbildung wichtig sind.
Auf die Tour de France 2023 hat sich das Team Alpecin-Deceuninck mit Höhentrainingslagern vorbereitet. Die Vorbereitung lief so, dass man bereits zum Tourstart im Baskenland bereit für Höchstleistung ist.