Beim Giro d’Italia erwischte es Simon Yates drei Tage vor dem Ende. Bis zur Etappe 19 dominierte der Brite die Rundfahrt, dann brach er völlig ein. Yates ist nicht der erste Fahrer, dem das passierte, und er wird wohl auch nicht der letzte sein. Schon häufig spielten sich um Leader in der dritten Woche einer Grand Tour Dramen ab.
Lange dominant, scheinbar unangreifbar, dann plötzlich ohne Power – was steckt dahinter? „Die Spitze der Belastungen liegt bei den Grand Tours meist auf der letzten Woche und es gibt medizinisch gesehen einige mögliche Störvariablen, die sich auf die Leistung des Athleten auswirken“, erklärt Jan-Niklas Droste vom BG-Klinikum Hamburg. Droste war selbst Leistungssportler und ist nun Teamarzt bei Bora-hansgrohe. Energieversorgung, Regeneration und natürlich das Thema Infekte spielen eine große Rolle, hängen aber auch zusammen.
Ausgebremst durch Krankheit
Harte Etappen, viele Hotelwechsel, Transfers & möglicherweise auch schlechtes Wetter – die Belastungen während der Rundfahrten sind enorm. Die Gefahr krank zu werden steigt. „Meist merken wir in der zweiten Rennwoche, dass die Sportler anfälliger werden“, erklärt Droste. Ist ein Fahrer angeschlagen, wird er dann möglicherweise in der dritten Woche krank, kann dann keine Leistung mehr bringen.
„Man kann nicht sagen, nur weil man sich voll belastet wird man krank. Aber wir sehen, dass man anfälliger, beispielsweise für Atemwegsinfekte wird, wenn man sich extrem belastet„, so Droste. Bei einer Grand Tour passiert das fast jeden Tag, über die Dauer von 21 Renntagen.
„Open Window“ – Infektanfälligkeit direkt nach dem Rennen
Seit Jahren gibt es die Theorie, dass Sportler direkt nach der Belastung extrem anfällig für Infekte sind. Die Teams steuern gezielt dagegen. „Diese Theorie des ‚Open Window‚ ist retrospektiv nur schwer zu belegen, weil es ja eine gewisse Zeit braucht, ehe der Sportler über Halsschmerzen oder Schleim klagt. Aber wir können schon sehen, dass wir die Infektionsgefahr senken, wenn wir in dieser Phase extrem vorsichtig sind – also schnell Energie nachführen, eine Unterkühlung vermeiden, nicht lange Zeit dehydriert sind“, so Droste.
Der Athlet – ein komplexes System
Dass die immer wieder zu beobachtenden Einbrüche hauptsächlich auf Krankheiten zurückzuführen sind, glaubt Droste nicht. Es ist ein Aspekt, aber es gibt weitere, die während einer Grand Tour große Auswirkungen haben. „Man muss sich anschauen, was während einer Grand Tour im Körper eines Athleten passiert, hormonell, muskulär und auch in Sachen Energieversorgung.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Sportlern, aber wir sehen bei einer Dreiwochen-Rundfahrt, dass da kleine Fehler große Auswirkungen haben können“, so Droste. Fährt sich ein Fahrer beispielsweise in der dritten Woche extrem „leer“, gelingt ihm es kaum noch, die Speicher wieder aufzufüllen. Denn der Körper ist am Limit und nicht mehr so frisch, wie etwa am Anfang einer Rundfahrt.
Durch die sehr hohe muskuläre Beanspruchung werden viele Stoffwechselprozesse in Gang gesetzt. Es laufen abbauende und aufbauende Prozesse, diese können verschieden ausgeprägt sein. „Wir kennen das alle, wenn wir uns extrem belasten, dann spüren wir das in der Muskulatur. Das spürt man auch noch Tage später. Die Profis fahren aber weiter“, sagt Droste.
Der entscheidende Punkt ist die optimale Regeneration der Muskulatur. Jedes Team hat dafür ihr eigenes Konzept, mit Ernährung, aber möglicherweise auch Kältebehandlung und anderen Maßnahmen. „Es wird versucht, ein muskuläres Milieu zu halten, dass der Fahrer regenerieren kann und weiter leistungsfähig bleibt“, erklärt Droste. Diese Konzepte sind im Detail streng geheim. Große Unterschiede zwischen den Top-Teams gibt es in diesem Bereich wohl nicht mehr, aber im Detail unterscheiden sich die Konzepte.
Bei Bora-hansgrohe arbeitet man mit einem spezifischen Regenerations-Konzept. Es geht um ein eingespieltes Recovery-System mit klaren Routinen, die dann auch für den Athleten sehr wichtig sind. Der Sportler kennt die Abläufe genau, das hilft auch bei der mentalen Entspannung, die ebenfalls sehr wichtig ist. Für die einzelnen Sportler gibt es individuell angepasste Erholungsabläufe, denn nicht bei allen Fahrern wirken einzelne Bausteine gleich.
Wechselspiel der Hormone
Die komplexen Hormonsysteme des Körpers reagieren auf die Belastungen einer Grand Tour. „Ganz allgemein lässt sich sagen: habe ich eine belastende Situation, springt der Sympathikus an, bildet die Nebenniere Hormone. Cortisol spielt da eine Rolle, auch Adrenalin – eher Hormone die aktivierend sind“, sagt Droste. Das Stresshormon Cortisol aktiviert Stoffwechselvorgänge und stellt dem Körper energiereiche Verbindungen zur Verfügung.
„Geht die Belastung über ein gewisses Maß hinaus, gibt es in Folge auch Auswirkungen auf andere Hormonsysteme. Der Schlaf spielt für den Hormonhaushalt eine enorm wichtige Rolle. Da werden beispielsweise Wachstumshormone ausgeschüttet und der Körper erholt sich“, erklärt Droste.
Über die Summe der Belastung, die der Körper über die drei Wochen hat, verändert sich auch das Hormonsystem. Läuft es nicht optimal, kann der Fahrer nicht ausreichend regenerieren. Um das zu steuern werden spezifische Schlafrhythmen festgelegt und Routinen gebildet. Ganz klar mit dem Ziel, dass die hormonellen Abläufe wie gewünscht laufen. „So sollen im Schlaf das natürliche Melatonin, und auch andere Hormone, die sich dann bilden, natürlich und optimal ins Blut abgegeben werden. Es geht vereinfacht darum, den Stress außerhalb des Rennens gezielt zu minimieren, damit der Körper leistungsfähig bleibt“, so Droste.
Energieversorgung extrem wichtig
Die Teams geben sich große Mühe, dass der Fahrer nicht krank wird und sich optimal erholen kann. Ein weiteres großes Problem bei der extremen Belastung während einer Grand Tour ist der enorme Energiebedarf. Für die Leistung eines Fahrers ist die Energieversorgung logischerweise extrem bedeutend und die Mannschaften unternehmen große Anstrengungen, die Energiezufuhr optimal zu gestalten.
„Rein physiologisch ist es eigentlich kein Problem, die Speicher in 24h wieder zu füllen„, erklärt Bora-hansgrohe-Chef-Nutritionist Robert Gorgos. Aber bei einer Rundfahrt ist das nicht ganz so einfach, gerade mit der steigenden Belastung in der dritten Woche einer Grand Tour. „Das Entscheidende ist, ob der Körper überhaupt in der Lage ist, die Energie zu resorbieren. Also, ob der Magen-Darm-Trakt in der Lage ist, diese Mengen aufzunehmen. Und natürlich auch, ob dem Fahrer es gelingt, auch während des Rennens die Energie so zuzuführen, wie es nötig ist“, so Gorgos.
Das Thema Energieversorgung hat im Profi-Radsport in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Nahezu jede Mannschaft arbeitet mit professionellen Ernährungswissenschaftlern zusammen und hat diesen Bereich professionalisiert.
„Ganz grundsätzlich gibt es drei ganz wichtige Punkte, die es zu beachten gilt. Der erste umfasst Hygiene, Zubereitung und die Qualität der Nahrung. Der zweite Punkt ist die Energiemenge und der dritte Punkt ist die Flüssigkeitsmenge und die Zufuhr von Mineralien.
Für jedes Rennen wird ein Plan für die Energieversorgung erstellt. „Ich sitze daheim, schaue mir an wie das Wetter wird, wie das Profil ist und rechne aus, wie groß der voraussichtliche Energiebedarf ist. Darauf aufbauend erstelle ich den Plan, was Zusammenstellung und auch Größe der Portionen betrifft, und gebe dem Koch eine Empfehlung. Gleichzeitig gebe ich auch den Physios eine Empfehlung, was sie im Rennen reichen sollen, wann welche Form von Energie benötigt wird. Was wann sinnvoll ist – was am Berg, in welcher Rennphase aufgenommen werden soll und wie dann beispielsweise die Reiskuchen gemacht werden sollen – all diese Dinge“, so Chef-Nutritionist Robert Gorgos.
Die Mitarbeiter wurden vorher geschult und wissen, wie sie die Speisen zubereiten sollen. Bei Bora-hansgrohe gibt es während einer Grand Tour nicht für jeden Fahrer einen eigenen Plan, aber individuelle Wahlmöglichkeiten. Natürlich gibt es ein striktes Alkoholverbot und wer empfindlich auf Kaffee reagiert, bekommt Tee für den Koffeinkonsum gereicht.
Bei den Rennen hat das Team Bora-hansgrohe den Luxus, einen eigenen Kitchen-Truck dabei zu haben, wo die Speisen zubereitet werden und auch alle Mahlzeiten eingenommen werden – in Sachen Hygiene ideal.
Der Grund für den Einbruch – das System am Limit
Neben den physiologischen Anforderungen spielt auch die Psyche eine Rolle. Der Stress ist enorm, gerade wenn es in die entscheidende Phase einer Rundfahrt geht. „Schaut man sich mal beim Start eines Jedermann-Rennens an, was da auf den Toiletten los ist, kann man sehen, wie der Körper reagiert“, sagt Droste lächelnd. Auch wenn die Profis deutlich routinierter sind, der Stress hinterlässt Spuren.
Magen-Darm Probleme sind nicht selten der Grund für einen Leistungsabfall eines Sportlers bei einer Grand Tour. Dass kann ein Symptom der Überlastung sein. „Der Körper sagt vielleicht auf diese Weise ‚Stopp, ich kann nicht mehr‚. Er nimmt einfach keine Energie mehr auf“, so Droste. Wird die Belastung zu groß, hat der Körper selbst bei bekömmlichen Kohlenhydraten Probleme diese aufzunehmen.
Das komplexe System des Athleten kann während einer Grand Tour an sein Limit geraten. Wird ein kleiner Fehler gemacht, kann das große Auswirkungen haben. Wird eventuell zu spät Energie nachgefüllt, oder einfach die Belastung zu groß, regeneriert der Körper schlechter. Das System wird aus der Balance gebracht und der Fahrer rutscht möglicherweise in eine Abwärtsspirale aus zu großer Anstrengung, zu geringer Erholung und folgerichtig noch größerer Anstrengung. Irgendwann lässt dann die Leistung nach.
Viele Aspekte spielen zusammen und will man den Grund für den Einbruch eines bestimmten Athleten herausfinden, muss man gezielt nach den Problemen suchen und tiefer analysieren. Das wird in den Teams natürlich gemacht, auch um für die Zukunft zu lernen. Denn aus dem Zusammenspiel von physiologischen Werten, den Leistungsdaten und dem Körpergefühl des Athleten können die Trainer im Zusammenspiel mit den Ärzten recht gut erkennen, wie gut es wirklich um den Fahrer bestellt ist. Doch ist das System bereits aus dem Gleichgewicht, lässt sich das nicht mehr stoppen, denn die Konkurrenz wird jede Schwäche nutzen.
Große Ziele, Druck und der unbedingte Siegeswille lassen die Fahrer manchmal über ihr Limit gehen. Bei einer Grand Tour kann das bitter bestraft werden. So hart wie die großen Rundfahrten gefahren werden, wird es wohl auch in Zukunft in der letzten Woche einen Fahrer erwischen.