Bei der Tour de l’Ain trafen die Tour-Mannschaften von Jumbo-Vimsa und Ineos aufeinander – das erste Kräftemessen der beiden Top-Teams für die Tour. Mailand-Sanremo eröffnete die Monumente-Saison und in Polen traf sich der Rest der Weltelite. Große Radsportunterhaltung mit einigen Fingerzeigen. Hier unsere Erkenntnisse.
 

Ineos hat viel zu tun bis zur Tour

Wer die Tour de l’Ain nicht verfolgt hat: Sie lässt sich als Jumbo-Visma-Supermacht-Testlauf zusammenfassen. Die niederländische Mannschaft war mit den drei Kapitänen Primoz Roglic, Tom Dumoulin und Steven Kruijswijk angereist. Dazu die Berg-Helfer Robert Gesink und George Bennett. Auf der ersten der beiden Bergetappen sah man nahezu die ganze Zeit die gelben Jumbo-Visma-Trikots an der Spitze des Feldes. Als die Favoritengruppe auf 10 Fahrer zusammengeschrumpft war, waren noch drei Helfer an Roglics Seite.
Roglic war eindeutig der Stärkste im Rennen und hängte Bernal bei beiden Bergetappen ab, wenn auch nur um Sekunden. Bennett fuhr extrem stark und das dürfte bei der Tour ebenso sein. Dumoulin kommt sicher noch besser in Schwung und Kruijswijk hat ebenso bereits ein sehr gutes Niveau. Diese Mannschaft ist bereit für die Tour de France und wird dort eine Macht sein.
Der große Gegenspieler hingegen, das Team Ineos, hat das Hausaufgabenheft ziemlich voll. Geraint Thomas war meist früh als Helfer im Einsatz und spielte dann in den letzten Anstiegen der Etappen keine Rolle. Ähnlich Chris Froome. Den stärksten Eindruck machte neben Egan Bernal Jonathan Castroviejo. Bernal war früh auf sich gestellt und schien gegen den bärenstarken Roglic chancenlos. Die Favoritenrolle für die Tour ist nach der Tour de l’Ain klar – Roglic und sein Jumbo-Visma-Team sind die neue Nummer eins.
Zu schnell sollte man Ineos jedoch nicht abschreiben. Gerade „G“ und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sie in den letzten Wochen bis zur Tour überraschend schnell in Schwung kommen können. Dazu sind Michal Kwiatkowski und vor allem Pavel Sivakov bereits in sehr guter Form.
–> Artikel zur Tour de l’Ain 
 

Wout-Hype

Im Jahr 2019 war es Mathieu van der Poel, der als Crosser die Weltelite des Straßenradsports aufmischte. Um Wout van Aert war es nicht still, der Belgier gewann immerhin eine Tour-Etappe, aber im Rampenlicht stand MvdP. In diesem Jahr ist es van Aert, der vollends überzeugt. Und das nach seinem schlimmen Sturz bei der Tour 2019.
Van Aert hat Strade Binache dominiert und nun auch noch Mailand-Sanremo gewonnen. Er war so viel stärker als Alapahilippe, dass dieser auf den letzten 1,5 km die Führungsarbeit verweigerte. Dennoch siegte Van Aert. Er hat nicht erst in den vergangenen Tagen gezeigt, dass er ein Ausnahmesportler ist, aber so stark, wie er im Moment ist, darf man ihn bei den flämischen Klassiker ebenfalls ganz vorn erwarten. Er hat in Sanremo sein erstes Monument eingefahren – kaum vorstellbar, dass es sein letztes ist. Der Wout-Hype ist längst da. Und wenn sich die Crosser weiterhin so brav abwechseln, ist dann spätestens 2021 wieder MvdP-Hype angesagt. Diese Jungs machen einfach Spaß!
–> Artikel zu Mailand-Sanremo

Remco macht Remco-Sachen

Auf der Königsetappe der Polen-Rundfahrt griff Remco Evenepoel 51 Kilometer vor dem Ziel an und stiefelte davon. Fuglsang, Yates & Co. fuhren sich dahinter den Draht aus der Birne, doch das alles half nichts. Remco hatte sich in den Kopf gesetzt, allein das Ziel zu erreichen – seine Beine gehorchten und der 20-jährige Belgier fuhr wie auf Schienen gen Ziel. So wie Remco das früher bei den Junioren gemacht hat, so macht er es jetzt in der WorldTour. Gut, in der Nachwuchsklasse gewann er mitunter mit 10 Minuten Vorsprung, diesmal waren es nur knapp zwei.
Dass Remco den halben Tag an der Schwelle über die Straße fliegen kann, ist bekannt, in Polen hatte er zudem mental noch 5 PS mehr. Mit der Rückennummer seines schwer gestürzten Teamkollegen Fabio Jakobsen in der Trikottasche war Remco mit einer Mission unterwegs. Wie er die Nummer bei der Zieldurchfahrt in die Höhe hielt und anschließend in Tränen ausbrach zeigt, dass auch er keine Maschine ist. Auch wenn er wie eine Maschine Radfahren kann. 
Evenepoel hat alle vier Rundfahrten, bei denen er in diesem Jahr gestartet ist, gewonnen. Superlative sparen wir uns künftig. Remco macht eben einfach Remco-Sachen.
–> Artikel zur Tour de Pologne
 

Wir müssen reden

Der schlimme Sturz von Fabio Jakobsen hat Diskussionen angestoßen. Wichtige Diskussionen. Das Fehlverhalten von Dylan Groenewegen hat den Horror-Crash ausgelöst, die Folgen sind fatal. Dass ein solches Verhalten geahndet wird, ist klar und richtig. Dass man die Diskussion aber nicht bei „Groenewegen ist Schuld“ beendet, sondern darüber nachdenkt, wie man die Rennen (und vor allem die Sprints) noch sicherer machen kann, ist ebenso wichtig.
UCI, Veranstalter, Fahrer und Teams sind durch den schlimmen Crash wachgerüttelt und aufgefordert sich wichtigen Fragen zu stellen. Brauchen wir 80km/h-Downhill-Sprints? Sind die Flatter-Gitter mit den Füßen noch zeitgemäß? Können wir die Sicherheits-Maßstäbe der Tour de France für alle Rennen anlegen? Welche Möglichkeit haben Teams und Fahrer, gefährlichen Ankünften eine Absage zu erteilen? …
Es ist gut, dass Fahrer wie Simon Geschke öffentlich ihre Meinung sagen und Kritik üben. Aber es sind alle Beteiligten gefordert. Eines ist klar, es wird immer wieder Situationen geben, in denen Fahrer (Menschen) falsche Entscheidungen treffen. Dylan Groenewegen würde diesen Tag gern löschen, es ungeschehen machen, diesen schlimmen Fehler zurücknehmen. Leider geht das nicht.
Hoffentlich schläft die Diskussion um mehr Sicherheit nicht wieder ein. Radsport ist saugefährlich, umso wichtiger ist es, zu versuchen, ihn so sicher zu machen wie möglich.
 

Es funktioniert

Hand hoch, wer vor drei Monaten gedacht hätte, dass wir 2020 noch ein Mailand-Sanremo erleben. Danke, ich hätte es auch nicht gedacht. Der Radsport ist ein komplizierter Sport, mit kruden Strukturen und Abhängigkeiten. Mit einem kaputten ökonomischen System und politischem Hauen und Stechen. Aber in Sachen Corona-Problemlösung ist man diszipliniert und engagiert.
Die Teams halten sich an die Auflagen, unzählige Tests werden gemacht, keine Zeremonien, alle tragen Masken, keine Aluhüte – es funktioniert scheinbar. Wer hätte das gedacht? Hut ab, Radsport, dass man das so umsetzt und es kaum Momente des Kopfschüttelns gibt. Wenn nun auch die Fans bei der Tour und den anderen großen Rennen so besonnen agieren, kann die Saison 2020 doch noch halbwegs ordentlich zu Ende gebracht werden. Ich wünsche es uns.