Nach den Stürzen und Unfällen der vergangenen Tage wird das Thema Sicherheit in der Radsportwelt heiß diskutiert. Als beim Critérium du Dauphiné, dem letzten großen Tour-de-France-Test, einige der großen Favoriten in einer Abfahrt stürzten, wurde die Strecken-Diskussion neu angefacht. Die schwere Verletzung von Emanuel Buchmann, der ebenfalls zu Fall kam, schlug wenige Tage vor der Tour natürlich auch in den Mainstream-Medien heftig auf – Empörung, Kritik und viel Aufmerksamkeit. Ob die Debatte nun der Startschuss für positive Veränderungen sein wird, bleibt abzuwarten.
Abseits der großen World-Tour-Radsportwelt ist das Thema natürlich ebenso präsent und relevant. Und parallel zum Critérium du Dauphiné, abseits der großen Bühne gab es einen Fall, der vielleicht als Vorbild dienen könnte.
„Das war wirklich gefährlich“
In Polen wurde in der letzten Woche das Rennen Tour Bitwa Warszawska ausgetragen. In den vergangenen Jahren als nationales Rennen ausgetragen, fand es nun als UCI-Rennen statt. In Polen wird in Sachen Radsport viel probiert. Manchmal vielleicht einen Tacken zu improvisiert, aber wo ein Wille ist, ist in unserem Nachbarland meist auch ein Radrennen.
Die Tour Bitwa Warszawska hat einen historischen Hintergrund: Es gedenkt der Schlacht von Warschau. So martialisch die Historie, so martialisch war in diesem Jahr auch die Streckenführeng. Gravel, Sand, Feldwege mit Löchern – definitiv kein Rennen auf einem Formel-1-Parcours.
Das Rennen begann mit einem Prolog, dann folgten vier Etappen. „Schon vor der ersten Etappe konnten einige Fahrer beim Recon nicht glauben, dass dies ihre Rennstrecke ist“, sagt Lars Wackernagel vom Team P&S. Im Rennen wurde es nicht besser. „An einer Stelle steckten Fahrer in einer Sandgrube und du musstest mit dem Auto irgendwie dran vorbei. Das war schon gefährlich“, so Wackernagel
Die größte Gefahrenstelle war laut Wackernagel eine Baustelle, die nicht rechtzeitig fertig geworden war. „Die Decke war nicht drauf, dort gab es einige Platten und das war auch gefährlich. Ich war schon froh, als meine Jungs nach der Etappe in den Stühlen saßen und halbwegs ok waren“, so der Sportliche Leiter der Thüringer Equipe. Grenzwerting, mindestens. Das sieht auch Paul Voß vom LKT Team Brandenburg so.
Bei der Besichtigung der zweiten Etappe fiel ein Abschnitt in einem Waldstück auf, der noch problematischer schien. Einige Teamchefs hatten bereits das Gespräch mit dem Veranstalter gesucht, dieser nahm die Kritik zur Kenntnis, teilte die Sicht der besorgten Mannschaften jedoch nicht.
Problemlösung in der Gemeinschaft
„Wir haben uns das angeschaut und beschlossen, dass wir als Mannschaft unter diesen Umständen nicht bereit sind, zu starten“, sagt Wackernagel. Andere Mannschaften sahen dies ähnlich. Es wurde kurzerhand ein Prozess in Gang gesetzt, der bemerkenswert ist. „Wir saßen am Abend mit 15 Teams zusammen, haben diskutiert. Jeder hat seine Meinung vertreten und wir haben uns auf sachlicher Ebene ausgetauscht. Die Mehrheit der Mannschaften sah ein zu großes Risiko in diesem Abschnitt.“ Robert Wagner vom Team Jumbo-Visma agierte als Sprecher der Mannschaften und führte die Gespräche. Unterstützt von Voß und weiteren Sportlichen Leitern.
Wagner hat mit den Kommissären und dem Veranstalter gesprochen, zudem wandte man sich direkt an die UCI und sendete Video-Material. „Recht schnell kam von der UCI die Rückmeldung, dass dieses Rennen so nicht als UCI-Wettbewerb ausgetragen werden könne“, erklärt Wackernagel.
„Damit war eine Entscheidung gefallen und wir haben die zweite Etappe dann neutralisiert ausgetragen“, so Wackernagel. Man hat zwei Runden absolviert, aber ohne Wertung. Die Etappen drei und vier konnten dann wieder wie geplant ausgetragen werden. Auch dort gab es Gravel-Passagen, die aber aus Sicht der Teams vertretbar waren.
„Wir haben nichts gegen Schotter-Abschnitte, aber es sollte eben nicht gefährlich sein. Ich bin vor Ort verantwortlich und will keine Eltern anrufen müssen, dass ihr Sohn mit gebrochenem Bein im Krankenhaus liegt“, sagt Wackernagel.
Das Team P&S Metalltechnik kann sich gut vorstellen, auch 2021 wieder am Start zu stehen. „Die beiden letzten Etappen waren voll ok, das haben wir dem Veranstalter auch signalisiert. Die Jungs fanden die beiden Etappen auch gut“, so Wackernagel.
Strade-Binache, Gent-Wevelgem oder Tro Bro Leon – Rennen mit Gravel-Passagen sind keine Seltenheit. „Grundsätzlich haben wir damit kein Problem und andere Teams auch nicht. Klar, war es speziell, aber wenn das der Charakter der Rundfahrt ist und man es vorher weiß, ist das kein Problem. Dann kann ja auch jeder entscheiden, ob er kommt, oder es lässt. Wir würden gern wiederkommen, dann vielleicht das Material anpassen“, so Wackernagel.
Vorbild für andere Rennen?
Was bei der Tour Bitwa Warszawska passierte, ist durchaus bemerkenswert. Es wurde nicht im Nachgang geschimpft, sondern während des Rennens versucht, eine Lösung zu finden. Die schnelle und klare Reaktion der UCI war dabei hilfreich. So, wie es bei dem kleinen Rennen in Polen lief, kann es vielleicht auch bei anderen Rennen umgesetzt werden, um für mehr Sicherheit zu sorgen.
Klar, es wird unterschiedliche Positionen darüber geben, was „ZU“ gefährlich ist. Deshalb sind Diskussionen nötig und eine vernünftige Basis zwischen allen Beteiligten. In Polen ist es nicht nur gelungen, das Rennen ohne großen Knall fortzuführen, sondern es wurde auch über das Jahr 2020 hinaus eine Basis geschaffen. Gut möglich, dass die Kooperationsbereitschaft des Veranstalters, ihm nachhaltig zu Gute kommt und das Rennen nicht als als gefährliches Abenteuer künftig von vielen Teams links liegen gelassen wird.
Die Frage, die sich nach der Tour Bitwa Warszawska stellt, ist: Kann es so nicht bei viel mehr Rennen laufen?
Die Antwort müssen Fahrer, Teams, Veranstalter und UCI geben. Es wird auch in Zukunft Baustellen geben, die nicht fertig wurden, oder grenzwertige Abschnitte unterschiedlich beurteilt werden. Vielleicht kann der Prozess, den von Wagner, Wackernagel, Voß & Co. in Polen erfunden wurde, nun bei vielen Rennen für mehr Sicherheit sorgen.
Foto: © „Tour Bitwa Warszawska 1920„