Die Tour der emotionalen Geschichten
Nach der perfekten Geschichte von Mathieu van der Poel und dem Gelben Trikot hatte man es bereits ahnen können – diese 108. Tour de France bietet die ganz großen Storys. Nur zwei Tage später geht das nächste Radsport-Märchen in Erfüllung. Mark Cavendish, der nach Gent-Wevelgem 2020 im Interview in Tränen ausbrach als ihm klar wurde, dass dies das letzte Rennen seiner Karriere gewesen sein könnte – genau DIESER Mark Cavendish holt nun seinen 31. Etappensieg bei der Tour de France. Gänsehaut, nicht nur bei seinen härtesten Fans. Das Skript für diese Story hätte selbst Sylvester Stallone noch mal einen halben Tag weggelegt um zu grübeln, ob es vielleicht doch eine zu kitschige Comeback-Story wäre. Gibt es jemanden, der das vor 12 Monaten für möglich gehalten hat? Wenn ja, und hat dieser Mensch all seine Ersparnisse ins Wettbüro getragen, kann er wohl mit dem Gewinn im nächsten Jahr privater Titelsponsor bei Patrick Lefeveres Team werden.
Es ist eine Geschichte, die so nur die Tour schreibt. Eine Geschichte von Vertrauen, Klasse, unbedingtem Willen und Teamarbeit. Julian Alaphilippe, der Weltmeister im Grünen Trikot, machte 1100 Meter vor dem Ziel das Tempo an der Spitze des Feldes. Dann wurde „Cav“ hinter den Alpecin-Fenix-Jungs abgesetzt und holte sich den Sieg. Es war kein „einfach Morkov hinterherfahren“-Sieg, sondern eine klasse Leistung des Altmeisters. Wäre ihm dieser Sieg in Paris gelungen, müsste er sofort seine Karriere beenden um die Geschichte perfekt zu machen. Doch wer weiß schon, was bis Paris noch alles so passiert.
„Streik“ – Reflektierte und klare Aussagen, statt stumpf poltern
Das Fahrerfeld legte zu Beginn eine kurze Pause ein. Philippe Gilbert, ein sehr erfahrener Profi und Fahrervertreter, kündigte die Aktion vorher an. Ruhig und klar wirkte Gilbert. Er sagte in mehreren Interviews, man wolle den Etappenort ehren und erst beim neutralen Start anhalten, denn die Stadt Redon könne für die Probleme ja schließlich nichts. Eine Besonnenheit, die man sich bei vielen Streiks zuvor nur gewünscht hätte.
Gilbert gab sich Mühe, das ganze Bild zu zeichnen, aber dabei vehement auf die Probleme hinzuweisen. „Zum einen ist die Tour de France zum Opfer des eigenen Erfolgs geworden. Die Tour ist ein so wichtiges Rennen geworden, dass fast alle anderen Rennen außer der WM dahinter verschwinden. Dadurch entsteht aber ein enormer Druck auf die Fahrer, die Teams und die Sponsoren“, erklärte Gilbert und brachte seine Kritik vor: „Der Parcours war nicht angepasst für eine Etappe in dieser Phase der Tour“.
Er, und auch Jacopo Guarnieri, ignorieren nicht, dass das Verhalten der Fahrer auch eine Rolle spielt. Gilbert erklärte, dass diese Aktion ein Aufruf für einen Dialog sei und man mit allen Beteiligten künftig gemeinsam für mehr Sicherheit sorgen will. Das ist im Radsport durchaus bemerkenswert, denn bislang schafften es die beteiligten Parteien höchst selten, sich gemeinsam Verbesserungsmaßnahmen zu überlegen. Meist sind die Interessen so unterschiedlich, dass kein Kompromiss möglich schien. Auch, weil oft die Bereitschaft fehlte. So war diese Aktion, und vor allem auch die Kommunikation durch Gilbert sehr clever! Es bleibt zu hoffen, dass dieser Dialog und die Zusammenarbeit dann auch wirklich irgendwann beginnt.
Brent van Moer – die rote Nummer als Trostpreis
Diese Momente, bei denen der Ausreißer erst ganz kurz vor dem Ziel eingeholt wird, sind selten geworden. Beim Zuschauen erinnerte man sich an die alten Zeiten, wo es gefühlt bei jeder Tour de France drei-vier Sprintetappen gab, wo der Ausreißer erst auf der Zielgeraden eingeholt wurde, oder es doch ganz knapp schaffte. Dieses Gefühl von Spannung, die steigende Sympathie für den armen Kerl da vorn, dessen Körper ihm schon vor zwei Kilometern signalisierte, dass er gleich ohnmächtig wird, wenn er nicht aufhört so derb in die Pedale zu treten – sie ist ein Teil der Faszination die dieser Sport ausübt. Aber man merkt erst, wie man diese Momente vermisst hat, wenn man sie mal wieder erlebt.
Brant van Moer ist einer der Helden des Tages und die Rote Nummer ist für ihn sicher mehr, als nur der Trostpreis für den so knapp verpassten Megacoup. Er hat gezeigt, was er drauf hat und wird von den französischen Fans ganz sicher gefeiert. Der Kerl ist 23 und hat bei der Dauphine als Ausreißer die erste Etappe gewonnen. Vielleicht wird er der nächste große Baroudeur? Der Radsport kann solche Typen gut gebrauchen.