Schon der erste Blick auf die Strecke verrät: In diesem Jahr ist es ein anspruchsvoller Parcours. Das Finale ist wirklich heftig. Je nachdem, wie gefahren wird, könnte es auf der Tourmalet-Etappe für einige Fahrerinnen mit dem Zeitlimit eng werden. Ich hoffe, die Organisation reagiert notfalls und zeigt sich kulant, sonst gibt’s beim Abschlusszeitfahren für die Zuschauer recht wenig zu gucken.

Ich finde es sehr schön, dass es ein Einzelzeitfahren gibt. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass es vielleicht nicht ganz am Ende ist. Vor allem nach solch einer Hammer-Bergetappe. So wird es am Schlusstag vielleicht für die absoluten Spezialistinnen um den Sieg gehen, für den größten Teil des Peloton das Zeitfahren aber wohl kaum relevant sein. Ob es für das Podium der Gesamtwertung noch relevant wird, muss man abwarten. Als Sportlerin hätte ich mir eine Massenstart-Etappe zum Abschluss gewünscht, aber da gibt es bei der Organisation natürlich viele Dinge zu beachten. Ich persönlich rechne nicht mit einem Sekundenkampf um den Gesamtsieg am Schlusstag – hoffentlich ist die Spannung nach dem Tourmalet nicht komplett raus.



Dass wir nicht in Paris starten ist schade, aber auch da muss man Verständnis haben. Will man das Rennen auch mal in andere Regionen bringen, keine übermäßigen Transfers einbauen, wird das schwierig. Dennoch war es 2022 ein tolles Erlebnis in Paris, gerade am Tag des Männer-Finales. Ich bin gespannt, wie es in Clermont-Ferrand sein wird.

Für die Mannschaften gilt es sich bei diesem Parcours möglichst breit aufzustellen – zumindest dann, wenn man keine Top-Fahrerin für das GC hat. Wir im Team AG Insurance – Soudal Quick-Step haben starke Fahrerinnen und mit Ashleigh Moolman eine exzellente Kletterin. Meine Aufgabe wird sein, Ashleigh gut durch die ersten Tage zu bringen, das Team zu leiten und als RoadCaptain meine Erfahrung einzubringen. Wir haben insgesamt eine extrem starke Mannschaft und der Parcours passt gut zu unserem Team – mit guten Fahrerinnen für mittelschwere Etappen, wir können auch im Sprint was holen. Auf jeden Fall werden wir mit großen Ambitionen ins Rennen gehen.

Die Etappen-Analysen

Etappe 1 | Clermont-Ferrand – Clermont-Ferrand | 124 km

Profil der 1. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Es ist nicht auszuschließen, dass es zum Auftakt einen Sprint gibt. Aber das „Ding“ 10 Kilometer vor Ziel hat schon steile Stücken. Dieser kurze Anstieg lädt förmlich zur Attacke ein und anschließend geht es bergab in Richtung Ziel. Wenn sich dort eine kleine, starke Gruppe formiert, kann die sich bergab durchaus vorn behaupten. Nach den Erfahrungen von 2022 sehe ich solch ein Finale zum Auftakt auch etwas kritisch. Es wird zu Beginn vermutlich wieder viel Risiko genommen, da sehen einige Fahrerinnen die einmalige Chance auf das Gelbe Trikot.

Kommt es zum Sprint, ist Lorena Wiebes wohl die große Favoritin. Aber ich würde mich hier nicht 100% auf einen Sprint festlegen, denn wenn die Klassikerfahrerinnen da voll drüberattackieren, stellt sich die Frage, wer das Loch tatsächlich schließen will und kann.

Etappe 2 | Clermont-Ferrand – Mauriac | 148 km

Profil der 2. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Diese Etappe finde ich schwierig einzuschätzen. Auf den ersten Blick sieht sie nicht super schwer aus, aber das sind schon einige Höhenmeter, die man hier sammelt. Nach dem Start geht es direkt lange bergan und insgesamt ist das schon eine durchaus schwere Etappe. Vermutlich wird am Anfang eine Spitzengruppe gehen, die wohl relativ lange durchhalten wird. Wer ein Interesse am Bergtrikot hat, könnte sich hier zeigen. Bei der Tour de France auf dem Podium mit einem Trikot zu stehen, ist etwas ganz Besonderes. Teams, die im GC keine Chance haben und bei denen ein Etappensieg ebenfalls nur schwer möglich ist, könnte das Bergtrikot als Ziel ausgeben und sich darauf konzentrieren.

Das Finale ist schwer, da wird es sicher keinen klassischen Sprint geben. Favoriten sind eher die bergfesten Sprinterinnen, oder es kommt sogar die Gruppe durch – auch das ist möglich. Es sind alles keine supersteilen, oder langen Anstiege – also nicht ideal für die Bergfahrerinnen – es scheint, als könnte man die schon noch mit Kraft drüberdrücken.

Ich denke, findet sich die richtige Gruppe mit den richtigen Fahrerinnen zusammen, dann kommt eine Spitzengruppe durch. Dann könnte auch das Gelbe Trikot wechseln. Wobei ich es Lorena Wiebes durchaus zutraue auf diesem Terrain Gelb zu verteidigen, sollte sie es tragen.

Etappe 3 | Collonges-la-Rouge – Montignac-Lascaux | 147 km

Profil der3. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Hier erwarte ich den klassischen Verlauf – erst geht eine kleine Gruppe, die wird dann im Finale eingeholt und es kommt zum Sprint. Doch der erste Teil ist schon einem Klassiker ähnlich – sehr wellig mit einigen kurzen Anstiegen. Doch das Finale sieht recht flach aus, was den Sprinter-Teams die Möglichkeit gibt, das Rennen zu kontrollieren. Finden sich hier Teams, die das Rennen für einen Sprint kontrollieren wollen, wird das ganz sicher möglich sein.

Etappe 4 | Cahors – Rodez | 177 km

Profil der 4. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Hier ist es zunächst recht flach, dann im Finale aber heftig. Fast alle Höhenmeter werden auf den letzten 70 Kilometern gesammelt. Es wird ganz sicher ein richtig schweres Finale, auch wegen der Länge der Etappe. Fünf Stunden Radrennen sind bei uns eher selten. Mir persönlich macht das wenig aus, ich habe aber eine andere Grundlage, ein anderes Trainingsalter als viele der jungen Fahrerinnen. Dazu ist man schon auf Etappe vier der Tour de France – das werden sicher einige bereits merken. Kluge Verpflegung und eine intelligente Krafteinteilung wird hier sicher besonders wichtig sein. Verstecken bis Rennkilometer 150, dann Vollgas.

Es sind zwar keine superschweren Anstiege, abgesehen vom letzten, dort könnte es aber richtig zur Sache gehen und vielleicht gibt es den ersten Fingerzeig in Sachen GC. Dieses Terrain ist ideal für starke Klassikerfahrerinnen, auch für Liane (Anmerk. der Redaktion Lippert).

Etappe 5 | Onet-le-Château – Albi | 126 km

Profil der 5. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Sieht auf den ersten Blick harmlos aus, aber am Ende sind da auch wieder 2000 Höhenmeter drin. Es sind wieder eher keine Anstiege für die reinen Bergfahrerinnen, sondern Kraft-Berge. Zum Ziel geht es flach – vielleicht wieder eine Möglichkeit für Sprinterteams, das Rennen zu kontrollieren und alles zusammenzufahren. Oder es kommt eine Gruppe durch, denn am nächsten Tag ist ein Sprint sicher einfacher zu realisieren. Man muss abwarten wie das Rennen läuft – Gruppe oder Sprint, hier mag ich mich nicht festlegen.

Etappe 6 | Albi – Blagnac | 122 km

Profil der 6. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Nur 1300 Höhenmeter, kurze Anstiege, nicht sonderlich steil – das ist vom Papier her eindeutig eine echte Sprinteretappe. Doch eventuell spielt der Wind eine Rolle. Die letzten 10 Kilometer geht es geradeaus, über offenes Terrain – bläst da der Wind von der Seite, kann es ein hektisches Finale werden. Mal abwarten, wie es an diesem Tag wird. Es ist auf jeden Fall die letzte Chance für einen Sprint – ich denke, man darf auch mit einer Sprintentscheidung rechnen.

Etappe 7 | Lannemezan – Col du Tourmalet | 90 km

Profil der 7. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Das ist die Königsetappe, brutal schwer. Ich kenne die Strecke nur vom Papier und aus dem TV – ich werde sie mir auf jeden Fall vorher auch nicht anschauen! Ich bin froh, wenn ich da nur einmal hoch muss.

Das ist ganz klar die Etappe, wo das GC entschieden wird. Zumindest vorentschieden, denn man weiß nie so genau, was im Zeitfahren am Schlusstag passieren kann. Einerseits finde ich es cool – wir fahren den Tourmalet, wir kommen da genauso hoch wie die Männer. Aber andererseits stellt sich Frage, ob es der Frauentour sportlich gut tut, wenn das Gruppetto gefühlt erst zwei Stunden nach der Siegerin da ist.

Bei dieser Etappe sind es wohl nur eine Handvoll Fahrerinnen, die da um den Sieg fahren können. Zudem geht es über 2000 m Ü.NN., das ist auch etwas Besonderes. Hier kann es schon Überraschungen geben. Wer häufiger in der Höhe trainiert, ist sicher im Vorteil.

Etappe 8 | Pau – Pau | 22 km

Profil der 8. Etappe der Tour de France Femmes 2023

Das ist eine Angelegenheit für die Spezialisten. Die, die noch dabei sind, muss man wohl sagen. Es wird einen Kampf um den Etappensieg geben, dann vielleicht noch den Kampf um das Podium der Gesamtwertung – vermutlich der Plätze hinter Annemiek. Sollte es in der Gesamtwertung doch noch eng sein, spricht dieses Zeitfahren allerdings auch wieder für Annemiek. Es ist insgesamt schon ein Finale der Tour, das ihr sehr entgegen kommt. Doch auch sie muss das Rennen erst beenden, ehe sie jubeln kann.

(Info: Dieser Text erschien in ähnlicher Form bereits im Januar 2023)