Pogacar vor Vingegaard

Als Titelverteidiger war Jonas Vingegaard in die Tour de France gestartet, auch als Top-Favorit. Denn der große Rivale hatte keine optimale Vorbereitung. Tadej Pogacar brach sich im April das Handgelenk, konnte lange keine Rennen fahren. Er sei nicht bei 100%, hieß es vor dem Start.

Vingegaard und Pogacar dominierten die Rennen, bei denen sie in diesem Jahr antraten. Pogacar gewann alle Etappenrennen, Vingegaard nur Paris-Nizza nicht – dort siegte Pogacar. Je näher die Tour kam, desto stärker wirkte Jonas Vingegaard. Beim Critérium du Dauphiné gewann er souverän, fuhr überragend.

Im vergangenen Jahr machten Vingegaard und Pogacar den Toursieg unter sich aus, fuhren in ihrer eigenen Liga. So hatte man das auch in diesem Jahr erwartet, nur eben mit Fragezeichen hinter der Leistungsfähigkeit von Pogacar – wegen dessen verletzten Handgelenks, nicht seiner Ausdauerfähigkeit. Nach den Pyrenäen scheint es so, als würde das Über-Duo auch diese Tour dominieren – doch es bleiben reichlich Fragezeichen.

Taktik und Täuschung

Jumbo-Visma ging mit einer bärenstarken Mannschaft ins Rennen, alles auf die Titelverteidigung ausgelegt. Man agierte von Beginn an taktisch so, als habe man den großen Favoriten auf den Gesamtsieg in den eigenen Reihen. Das Team kontrollierte das Geschehen, Vingegaard konzentrierte sich auf Pogacar – ließ diesen nicht weg, arbeitete aber auch nicht mit ihm zusammen. Der stärkste Konkurrent ist schließlich er. Man agierte so, als habe man einen klaren Plan und den stärksten Mann. Defensiv, auf die entscheidenden Etappen lauernd.

Vor Beginn der Tour hätte man vermuten können, Jumbo-Visma will zunächst keine Zeit einbüßen, früh Pogacar antesten, später im Rennen dann für die Entscheidung sorgen. Sollte Pogacar von Beginn an fit sein, würde man vielleicht den Fokus auf die 17. Etappe richten – in großer Höhe könnte Vingegaard dem Konkurrenten erneut überlegen sein – dieser wieder viel Energie lassen und dann abfallen – ähnlich dem vergangenen Jahr. Nur auf das Zeitfahren würde sich Vingegaard nicht verlassen können.

Doch dann kamen die Pyrenäen, mit dieser spektakulären fünften Etappe, in der das Rennen explodierte, nachdem Jai Hindley in der Fluchtgruppe des Tages war und die Top-Fahrer am Col de Marie Blanque All In gingen. Es waren große Abstände entstanden und Vingegaard wirkte überlegen – auch gegenüber Pogacar.

Jumbo täuschte sich?

Auf der zweiten Pyrenäen-Etappe ging Jumbo-Visma dann in die Offensive. Van Aert in die Gruppe, als Relaisstation nach dem Tourmalet. Der Abstand wurde gut kalkuliert, der Plan mit Van Aert ging perfekt auf. Doch der im Feld nicht. Man hatte sicher gehofft, Pogacar am Tourmalet abhängen zu können, dann mit Van Aert als Helfer für Vingegaard eine Vorentscheidung herbeiführen wollen. Nach dem großen Unterschied am Tag zuvor hatten viele erwartet, dass Vingegaard Pogacar erneut abhängen würde. Doch das klappte nicht. Man hielt am Plan fest, und Vingegaard wurde am Ende sogar von Pogacar abgehängt, büßte mehr als die Hälfte des Vorsprungs in der Gesamtwertung ein.

Der falsche Plan? Eher nicht. Die taktische Idee von Jumbo-Visma ist nachvollziehbar und sie wurde sehr gut umgesetzt. Im Nachgang kann man fragen, war es nötig, bei der komfortablen Situation nach der 5. Etappe – immerhin fast 1 min Vorsprung auf Pogacar – derart offensiv zu agieren – bei noch zwei Wochen Tour, mit schwerem Finale in den Alpen und den Vogesen. Man sollte dabei aber auch bedenken, welche Erfahrungen das Team damit gemacht hat, defensiv zu agieren und einen Vorsprung zu verwalten – siehe Tour de France 2020, als Pogacar im Zeitfahren Roglic noch überholte. Eine Lehre daraus war vielleicht, Chancen nicht ungenutzt zu lassen – vor allem gegen Pogacar.

Falsche Entscheidung nach dem Tourmalet?

Am Tourmalet wirkte Vingegaard nicht so stark, wie am Tag zuvor. Der Antritt wirkte nicht so explosiv, Pogacar konnte folgen. War Vingegaard am Tag zuvor im Finale „zu tief gegangen“? Möglich. War Pogacar etwas stärker als am Mittwoch? Vermutlich. Vingegaard konnte Pogacar nicht abhängen, hätte dann vielleicht rausnehmen können und die Situation verwalten. Der „Rest“ der Favoriten wäre wieder rangekommen, Hindley hätte Buchmann fahren lassen und vielleicht das Gelbe Trikot behalten. Vingegaard hätte aber so den Abstand zu Pogacar halten können, denn dass er sich am Ende den Konter von Pogacar einfing, lag sicher auch an der Belastung, die er zuvor während der Etappe hatte.

Im Nachhinein ist man immer schlauer, aber sollte sich Vingegaard tatsächlich nicht so gut gefühlt haben, wäre es wohl die bessere Entscheidung gewesen. Das ist natürlich Spekulation, denn weder die Kommunikation mit dem Sportlichen Leiter, noch die Leistungsdaten und auch sein Empfinden sind öffentlich zugänglich.

Wundervolle Tour

Das Ergebnis der Pyrenäen ist, dass die Tour offen bleibt, der Abstand zwischen den Überfliegern sehr gering ist. Perfekt für die Fans – es bleibt spannend! Es ist die Tour der beiden Ausnahmefahrer und auch nach einem heftigen Auftakt bleibt das Rennen im Gleichgewicht. Nichts ist entschieden. Es bleiben viele Fragen offen, die Antworten darauf wird das Rennen liefern.

Wird Pogacar wegen der Pause durch die Handverletzung immer besser, im Verlauf der Tour, oder baut er ab, weil die Trainingsgrundlage nicht optimal war? Hat Jonas Vingegaard zu früh seinen Peak erreicht – vielleicht schon bei der Dauphine? Gelingt es Jumbo-Visma, ihre extrem starke Mannschaft optimal einzusetzen? Wollen sie das Trikot noch einmal abgeben, um Druck von Vingegaard zu nehmen?

Jede Etappe kann das Rennen aus dem Gleichgewicht bringen, so scheint es. Der nächste große Kampf der beiden Überflieger wird am Puy de Dôme am Sonntag erwartet – mal schauen, in welche Richtung dann das Rennen um Gelb kippt.