Wenige Tage vor seinem 50. Geburtstag am 2. Dezember ist die Dokumentation „Jan Ullrich – Der Gejagte“ auf Amazon Prime erschienen. Vier Teile hat die Doku, in der Jan Ullrich über seinen Weg, seine Karriere und seinen Absturz spricht. Es wird Ullrichs Leben nachgezeichnet, kommen Freunde, Familie, Wegbegleiter, Konkurrenten und enge Vertraute zu Wort. Die Dokumentation ist gut gemacht, der Rote Faden ist Ullrichs Reise an Orte, die in seiner Karriere und seinem Leben von großer Bedeutung sind – Radsportberge, Wallfahrtskirche oder seine Heimatstadt Rostock sind Drehorte. Ullrich wollte mit seiner „ReTour“ Reise seine Vergangenheit aufarbeiten, um „befreit in die Zukunft gehen zu können“.

Wer Ullrichs Karriere verfolgt hat, erfährt kaum Neues. Es kommen vor allem Personen zu Wort, deren Rolle und Haltung zu Ullrich und dessen Karriere bekannt sind. Ex-T-Mobile-Pressesprecher Christian Frommert, Doping-Experte Hajo Seppelt, Rudy Pevenage, Lance Armstrong. Auch Dopingarzt Eufemiano Fuentes kommt zu Wort. Bei dessen Ausführungen entsteht wohl nur bei Radsport-Kennern ein klares Bild. Doch die Aussagen sind gut abgestimmt, tragen die Story. Die emotionalen Worte von Ullrichs Ex-Frau Sara Steinhauser, oder auch von Bruder Stefan Ullrich und Mutter Marianne Kaatz geben interessante Einblicke und lassen beim Zusehenden ein Bild von Jan Ullrichs Charakter entstehen. Wer sich mit Ullrich bereits intensiv auseinandergesetzt hat, wird aber vermutlich kein neues Bild vom Tour-Champion von 1997 bekommen, sondern seinen Eindruck eher bestätigt sehen.

Warum hat er so lange geschwiegen?

Die Doku wurde mit Spannung erwartet, weil bereits vor mehr als einem Jahr angekündigt war, dass Ullrich über alle Bereiche seines Lebens und der Karriere offen spricht – auch über sein Doping. Erstmals. Die Amazon-Doku wurde mit großem PR-Aufwand clever beworben. Ein langes Interview mit Hajo Seppelt im Vorfeld, Kino-Premiere und Pressetermine. Sehr detailliert geht es in der Doku allerdings nicht um Ullrichs Doping. Wie er aufflog, dass er bereits in den 90er dopte, dass er Eigenblut-Behandlungen mit Fuentes machte – all das war mehr oder weniger lange bekannt. So konzentriert sich das Interesse der Beobachter stark auf die Frage: Warum hat er so lange geschwiegen? Hier bietet die Doku eine Antwort, die sicher viele vermuteten: Trotz, Selbstmitleid, schlechte Beratung.

Ein sehr interessantes Thema reißt die Doku nur am Rande an. ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann wirft die Frage auf, woher die kollektive Forderung kam, dass Ullrich selbst gesteht. Warum Medien und Fans glaubten ein Anrecht zu haben, es aus seinem Mund zu hören, dass er betrogen hat.

Der Held als Produkt

Diese Doku hat kein Interesse daran, Jan Ullrich schlecht aussehen zu lassen. Es ist ein Unterhaltungs-Produkt, das die Lebens-Achterbahnfahrt eines der größten Sporthelden Deutschlands zeigt. Der schüchterne Junge aus dem Osten, der durch seine außergewöhnliche Begabung und eisernen Willen in den Radsport-Olymp aufstieg, dann tief fiel, nach einem schlimmen Absturz knapp dem Tode entkam und nun sein Leben neu ordnet und geläutert zurück in die Radsportfamilie will. Ein großartiger Stoff für ein breites Publikum.

Die Amazon-Doku verpackt diese Geschichte gut konsumierbar, auch für Menschen, die den Radsport eher am Rande verfolgen. Ullrich spricht nun selbst, erzählt exklusiv seine Geschichte – das weckt natürlich Interesse. Früher nutzten Wirtschaftsunternehmen seine Popularität für Geschäftsinteressen, verdienten Manager, Veranstalter und viele andere gutes Geld mit dem Toursieger von 1997. Nun ist seine Geschichte ein perfektes Produkt für die Unterhaltungsindustrie.

Zurück in die Radsportfamilie

Für Jan Ullrich ist 2006 eine Welt zusammengebrochen, als er am Tag vor dem Start der Tour de France suspendiert wurde. Seine Karriere musste er wenig später beenden, unvollendet und unfreiwillig. Dazu wurde er zum Buhmann vieler Radsportfans, die sich von ihm persönlich betrogen fühlten. Das hat Ullrich als ungerecht empfunden, nicht überwunden und lange nicht verstanden. Radsport war sein Leben, ganz Deutschland sein Fan – das drehte sich 2006 abrupt. Das ist der Kern seiner Leidensgeschichte und auch der Doku.

Jan Ullrich spricht im Bezug auf Doping auch in dieser Doku davon, dass er niemanden betrogen hat. Beim Team Telekom sei es damals darum gegangen, für gleiche Voraussetzungen zu sorgen. Das ist seine Sicht auf die Zeit der Telekom-Toursiege 1996 und 1997. Sporthistoriker sehen das vielleicht anders. Denn aus dem Team Telekom wurde dank professionell organisiertem Doping in nur einem Jahr aus einem kleinen Mixed-Team bei der Tour eine Übermannschaft, die 1996 und 1997 bei der Tour das Maß der Dinge war.

Jan Ullrich wurde zu einer Zeit Profi, als Doping Teil des Systems Radsport war. Man wurde Profi mit allen Konsequenzen, oder man ließ es. Zumindest in der Weltspitze. Doch er hat selbst die Entscheidung getroffen, mitzumachen. Ebenso hat er sich allzuoft schlecht beraten lassen, von Beratern, die er selbst wählte. Es mag sein, dass er kein Mensch ist, der als klarer Leader voran geht, leicht beeinflussbar ist, dazu ein Meister der Verdrängung. Die falschen Berater, das organisierte Doping von Menschen, denen er vertraut hat – Opfer der Umstände ist er sicher in einigen Fällen, doch die Verantwortung für sein Handeln muss er selbst übernehmen, die Konsequenzen tragen. Bemerkenswert wirkt in diesem Zusammenhang der Satz seiner Ex-Frau Sara in der Doku, die über seinen Absturz sagt: „Da bist du jetzt mal 100% selbst dran schuld“.

Ganz am Ende entschuldigt sich Jan Ullrich bei den Fans, die er betrogen hat. Auch bei den Fahrern, die damals vielleicht sauber waren. Er hat es nun ausgesprochen, Fehler eingestanden und sich entschuldigt. Kann er nun befreit in die Zukunft gehen? Sein Freund Mike Baldinger will die Resonanz der Radsportfamilie abwarten. Es scheint Ullrichs Wunsch zu sein, in den Radsport zurückzukehren. Nicht mehr der verstoßene Sünder zu sein, sondern Teil der Familie, die den Großteil seines Lebens bestimmte. Er ist der einzige Deutsche, der die Tour de France gewann, eines der größten Radsporttalente aller Zeiten. Er hat in Deutschland einen Radsportboom entfacht, aber sein Name ist auch mit dem Niedergang des Radsports hierzulande verbunden, unter dem vor allem auch viele Nachwuchssportler litten.

Es ist Jan Ullrich zu wünschen, dass er mit sich im Reinen ist, nicht wieder abstürzt und ein glückliches Leben führen kann. Ob es dafür gut, oder sogar notwendig ist, dass er wieder „Teil des Radsports“ ist, bleibt fraglich. Lance Armstrong hat seinen Weg gefunden, Jan Ullrich muss seinen eigenen finden, hoffentlich mit den richtigen Beratern.

Sein Ex-Frau Sara sagt in der Doku, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein Riesenschritt für Ullrich ist, dass er danach endlich „diese Tür schließen kann, den nächsten Schritt gehen“. Sie spricht von der „Vorstellung, dass er auch noch etwas anderes könnte“. Er könne Gutes tun, Menschen begeistern, mit Jugendlichen arbeiten, oder suchtgefärdeten Menschen helfen, ist sich Sara Steinhauser sicher.

Sollte es für den Menschen Jan Ullrich das Beste sein, die „Radsport-Tür“ zu schließen und etwas ganz anderes zu machen, jetzt wäre sicher ein guter Moment dafür. Die Podcasts und Dokus über seinen Toursieg, seinen Aufstieg und Absturz sind erschienen, seine Geschichte ist erzählt. Bücher gibt es auch genug. „Ulle“ bleibt Radsportgeschichte, dafür muss der Mensch Jan Ullrich nicht Teil des Radsportkosmos sein.


(Foto: © Roth&Roth / CV) | –> Hier gehts zur Amazon-Doku