Selbst Dan Martin wunderte sich nach der ersten Bergankunft. „Chris und Nairo spielen Katze und Maus. Sie holen uns ein und gucken sich an. Das ist eine merkwürdige Taktik„, sagte der Ire in Arcalis. „Ich weiß nicht wann Nairo angreifen will, er hat schon seit einigen Tagen keinen Angriff gestartet.“

In der Tat hat Nairo Quintana auf der neunten Etappe keine einzige Attacke gestartet. Er konnte jeden Angriff scheinbar problemlos parieren, doch selbst in die Offensive ging er nicht. „Ich würde gern glauben, dass er am Limit war„, sagte Chris Froome, der auch einen Angriff am Ende eines schweren Tages erwartet hatte. „Er hing die ganze Zeit wie Klebstoff an meinem Hinterrad“, sagte Froome im Ziel.

 

Alles Taktik

War Quintana am Limit? An seiner Körpersprache und Mimik kann man nichts ablesen, jedoch schien er jedes Tempo der Konkurrenz problemlos mitgehen zu können. Also alles Taktik?

Es gibt einige Dinge die darauf hindeuten, dass Quintana kühl seine Strategie durchzieht. Das begann schon vor der Tour. Er ist der alleinige Kapitän, der Tour-Sieg ist das große Ziel. Nur er erschien zur Pressekonferenz vor dem Rennen und bekräftigte dort, dass es für Valverde nur die Option gibt, zeitgleich mit ihm ins Ziel zu fahren. Dann beteiligte sich seine Movistar-Mannschaft bei den Flachetappen an der Verfolgungsarbeit und alles folgte der Devise „maximale Kontrolle“. Im letzten Jahr hatte der Kolumbianer die Tour auf der zweite Etappe bei einer Windkante verloren. Das wurde erfolgreich verhindert. Bislang hat Quintana nur durch einen Fehler etwas Zeit verloren.

 

Die wichtigen Etappen kommen noch

Die Tour 2016 wird den letzten acht Etappen entschieden. Der Mont Ventoux, dann das flache Zeitfahren und schließlich die letzten vier harten Tage in den Alpen. Dort ist Quintana in seinem Element. Wenn die Straße richtig schief wird, fühlt sich das Leichtgewicht wohl. Die moderaten Anstiege wie Peyresourde und Arcalis sind eher nicht nach seinem Geschmack.

Die Movistar-Teamleitung um Eusebio Unzué ist sehr erfahren, abgeklärt und clever. Auf der neunten Etappe hatte man immer noch zwei Fahrer in der Spitzengruppe, nachdem Valverde sich zurückfallen ließ. Beide schienen nicht auf Etappensieg zu fahren. Sicherten sie nur ab, falls am vorletzten Berg die Post abgeht?

Es wäre denkbar, dass Quintana bis zu den Zeitfahren seine Kräfte schont, dann alles raushaut was er hat und in den letzten zwei Alpen-Tagen Gelb erobert. Froome in Bedrängnis zu bringen ist eh nicht einfach und sein extrem starkes Team kann frühe Attacken problemlos neutralisieren. Solange aber Froome in Gelb fährt, müssen sie jeden Tag arbeiten. Irgendwann wird das Spuren hinterlassen, sogar bei den Sky-Jungs.

Warum also sollte Quintana mit viel Aufwand in Arcalis um ein paar Sekunden kämpfen, wenn er die Favoritenrolle und die Verantwortung auf Froomes Schultern lassen kann? Folgt Quintana also einfach diszipliniert seinem Plan? Es würde zu ihm passen.

Doch es gibt eine alte Tour-Weisheit die besagt: Wenn du die Chance hast deinen Konkurrenten Zeit abzunehmen, dann tu es, denn du weisst nie was passiert. Eine andere ist: Wer gewinnt hat Recht.