Es ist ein sehr souveräner Auftritt des Niederländers bei diesem Jubiläumsgiro. Selbst ein Toilettenstopp kann ihm nichts anhaben. Er fährt bergan auf dem Niveau vom besten Kletterer der Welt, Nairo Quintana, und bergab ist er schneller als Vincenzo Nibali, einer der Top5-Abfahrer der vergangenen 25 Jahre. Wie soll man diesen Tom Dumoulin schlagen können, wenn er im Kampf gegen die Uhr doch ebenfalls zur absoluten Weltspitze zählt? Gar nicht! Wenn Tom Dumoulin so weiterfährt, wie bisher, wird er diesen Giro gewinnen. Nur ein Sturz oder ein Defekt kann ihn stoppen. Denn seine einzige Schwäche ist sein Team. Nach dem Verlust des Edelhelfers Wilco Kelderman muss es Dumoulin in den steilen Bergen selbst richten. Und das macht er bislang mit Bravour, auch taktisch.
Selbstbewusst oder arrogant?
Dumoulin war so stark, dass er mit der Konkurrenz Spielchen spielen konnte. Dagegen ist nichts zu sagen. Auch nicht dagegen, dass er Nibali und Quintana in die Pflicht nehmen will, hinter Pinot herzufahren, um ihre Plätze abzusichern. Dass Dumoulin dann aber nach dem Rennen erklärt, er würde sich wegen deren Fahrweise darüber freuen, wenn Quintana und Nibali ihren Podestplatz verlieren würden, ist mehr als unnötig. Es ist riskant.
Dumoulin talks about Quintana action in last few km
> https://t.co/eLXQumk9UU#Giro100 pic.twitter.com/KUAxS2bQ9a— Giro d’Italia (@giroditalia) 25. Mai 2017
Man muss es Dumoulin nicht als Arroganz auslegen, es ist schlicht die Wahrheit. Läuft alles normal, brummt er allen Kontrahenten im Zeitfahren locker zwei Minuten auf. Doch man kann Nibali und Quintana ebenfalls nichts vorwerfen, denn sie fahren auf Sieg, nicht um Platz drei. Nibali hat alle drei GrandTours gewonnen, niemand wird ihn in 25 Jahren auf den verpassten 3. Platz von 2017 ansprechen. Bei Quintana ist die Ausgangslage ebenso klar. Der Kolumbianer versucht sich am Double: Giro und Tour. Da nimmt er gern einen Platz auf dem Treppchen beim Giro mit, aber solange er eine Chance auf den Sieg sieht, versucht er es. Endlich, so denken viele Fans, fahren mal die Leader voll auf Sieg, statt abzuwarten und abzusichern, wie es oft bei der Tour ist. Für Dumoulin ist das offenbar nicht nachvollziehbar und so machte er eben diese Aussage, die gefährlich ist.
Man sieht sich noch
Nairo Quintana reagierte gewohnt zurückhaltend und erklärte, er wollte etwas Verantwortung auf Dumoulins Schulter laden. Das ist mehr als verständlich, denn Dumoulin konnte erneut lange Zeit von den verschiedenen Interessen profitieren und musste nur ein Mal kurz selbst hart arbeiten.
Bei Nibali sieht das etwas anders aus. Der Sizilianer ist bekannt dafür, auszusprechen was er denkt. „Tom ist definitiv gut und wir müssen ihm gratulieren“, erklärte er. Angesprochen auf die Aussage von Dumoulin, dass sich dieser wünscht, Nibali und Quintana würden ihren Podestplatz verlieren, blieb der Italiener nicht so zurückhaltend wie Quintana: „Er sollte besser vorsichtig sein, denn auch er könnte das Podium verlieren. Er sollte mit den Füßen auf dem Boden bleiben und so besser in Rosa in Mailand sprechen, nicht heute“.
Sollte es Dumoulins Ziel gewesen sein, Quintana und Nibali noch einmal richtig zu reizen – das dürfte aufgegangen sein. Vielleicht diente die Provokation dazu, Movistar und Bahrain-Merida zum Arbeiten an den verbleibenden Tagen zu animieren. Auch das könnte klappen. Aber es ist auch gefährlich. Denn bislang hat jeder der Favoriten lieber Dumoulin in Rosa gesehen, als den alten Rivalen. Das ist nun anders. Fährt Quintana weg, grinst Nibali Dumoulin an. Umgekehrt genauso. Zudem werden beide bis zur letzten Sekunde kämpfen und ihrerseits lieber Pinot siegen sehen, als Dumoulin. Unwahrscheinlich, klar. Aber es kommen noch viele Rennen, in dieser Saison und in der nächsten. Teams und Fahrer vergessen nicht, wenn man sich gegenseitig hilft, aber sie vergessen es auch nicht, wenn man ganz tief in die Trickkiste greift.
Tom Dumoulin ist einen herausragenden Giro gefahren und steht vor dem Gesamtsieg. Wäre er am Donnerstag mit 20 Sekunden Rückstand auf Pinot mit Nibali und Quintana am Hinterrad über die Linie gerollt und hätte im Interview betont, dass er nicht am Limit war, hätte er Movistar und Bahrain-Merida auch mental einen harten Schlag versetzt. So hat er sie unnötig angestachelt und Pinot zurück ins Spiel gebracht – für ihn gefährlich, für Fans und Medien dagegen optimal.