Am Ende der Saison steht das Team Bora-hansgrohe auf Rang vier im UCI-Teamranking – damit darf man sehr zufrieden sein. Vor allem dann, wenn man die Budgets der Teams in die Beurteilung einbezieht. Der ganz große Erfolg der deutschen Mannschaft war der Sieg beim Giro d’Italia mit Jai Hindley. Etwas überraschend, aber durchaus verdient sicherte man sich beim Giro den Gesamtsieg. Ein Erfolg, der für das Team und die Führung enorm wichtig war. Denn durchaus gab es an der Neuausrichtung der Mannschaft (mit dem Ziel sich zu einem GC-Team zu entwickeln) und der Umstrukturierung der sportlichen Leitung Kritik. Mutig war zudem die Entscheidung, alles auf den Giro zu setzen und mit drei Kapitänen anzutreten. Doch, wie an anderer Stelle bezogen auf den Giro bereits ausführlich betrachtet – Erfolg gibt Recht.
Große Erfolge, große Probleme
Insgesamt 30 Siege holte das Team – Valencia-Rundfahrt, Tour de Romandie, Giro d’Italia, Eschborn-Frankfurt, Etappen bei Vuelta und Giro … es waren durchaus große Erfolge, die man feierte. Doch es war keine einfache Saison für das Raublinger Team. Im Frühjahr wurde ein Großteil des Kaders von Covid und anderen Infektionen zurückgeworfen. So gut es bei Vlasov, Higuita & Co lief, so hart erwischte es die Klassiker-Fraktion. Leader Nils Politt konnte kaum Akzente setzen, hatte insgesamt kein sehr gutes Jahr, trotz Meistertitel und Rund-um-Köln-Sieg.
Hart erwischte es auch die Ardennen-Franktion um Maximilian Schachmann. Erst Covid, dann nach Paris-Nizza erneut krank – Schachmann kam bis zum Sommerbeginn nicht wieder richtig in den Tritt. Bockstark war er bei der Tour de Suisse, stürzte dann und hatte erneut Corona. Bei der Tour lief es dennoch zunächst überraschend gut, dann aber nach einem weiteren Sturz auch nicht mehr rund. Auch das Frühjahr von Ide Schelling verlief ähnlich kompliziert.
Bezieht man die großen Probleme des Frühjahrs mit ein, war der Girosieg noch wertvoller. Der erste Grand-Tour-Erfolg des Teams überstrahlt viele schwierige Phasen. Bei der Tour de France konnte man zwar keinen Etappensieg einfahren, war aber mehrfach nah dran und holte mit Aleksandr Vlasov Gesamtrang fünf. Mehr als respektabel, bei dessen Tour-Debüt. Bei der Deutschland Tour lief es nicht so richtig rund für das deutsche Vorzeigeteam und auch die Vuelta war in Sachen GC „ok“, aber nicht mehr. Higuita konnte nicht das abliefern, was man erhofft hatte. Jai Hindley landete am Ende in der Gesamtwertung immerhin in den Top10. Doch die Spanien-Rundfahrt wird man teamintern insgesamt vielleicht ein wenig anders bewerten.
Langer Atem
Von außen betrachtet war die Vuelta des Teams Bora-hansgrohe nicht sehr spektakulär. Zwei Sprint-Etappensiege, im GC Rang 10 – kein Vergleich mit dem Giro, wo man auf einer Etappe spektakulär das Feld sprengte und am Ende sogar den Gesamtsieg holte. Doch die Vuelta hatte vielleicht eine andere Bedeutung. Denn es war Sprinter Sam Bennett, der die Etappensiege holte. Der Ire, trotz langwieriger Knieverletzung zurück ins Team geholt, nachdem er vor Jahren selbst den Abgang von Bora-hansgrohe forcierte. Man hatte Pascal Ackermann gehen lassen um einen verletzten Bennett zurückzuholen, der bei QuickStep erneut einen unrühmlichen Abgang hinlegte – von außen betrachtet war die Bennett-Verpflichtung eine mutige Entscheidung der Raublinger.
Bennett konnte lange nicht spezifisch trainieren, das Knie war noch nicht so weit. Dann der schleppende Aufbau, sodass die unschöne Entscheidung, ihn aus dem Tourkader zu streichen, unausweichlich erschien und auch folgte. Doch man bewies langen Atem und Bennett kam zurück. Ihn zur Vuelta zu schicken war auch nicht ohne Risiko, denn gänzlich überzeugt hatte Bennett zuvor noch nicht. Doch er lieferte und holte zwei Etappensiege! Leider musste er dann früh nach positivem Covid-Test das Rennen verlassen.
Die Geschichte um Sam Bennett stützt die Position der Teamleitung sicher auch intern. Man hat Entscheidungen getroffen, dran festgehalten und wurde belohnt – so etwas schafft Standing. Das betrifft aber nicht nur die Personalie Bennett. Sondern beispielsweise auch die von Anfahrer Danny van Poppel. Der Niederländer wurde ins Team geholt, damit er seine Sprintambitionen (größtenteils) begräbt und in die Rolle des Anfahrers wächst. Das ist exzellent gelungen! Van Poppel war der beste Anfahrer der Saison 2022 und war auch maßgeblich an den Erfolgen von Bennett bei der Vuelta beteiligt. Dabei musste er während der Saison oft selbst als Kapitän einspringen, weil die anderen Fahrer nicht in Form, oder verletzt waren. Auch das meisterte er souverän, auch wenn ihm zwar mehr als ein halbes Dutzend Podiums-Platzierungen, aber kein Sieg gelang. Vlasov, Hindley, Higuita – aber vor allem auch die Verpflichtung von Van Poppel stellte sich als sehr guter Transfer heraus. Sie kompensierten die weniger guten Saisons der etablierten Kapitäne.
Wo gehts hin, Bora-hansgrohe?
Nach dem Umbruch vor der Saison 2022 setzte man den eingeschlagenen Weg nun fort. Kelderman, Großschartner, Laas und Lukas Pöstlberger verlassen das Team. Geholt wurden Bob Jungels, Neo Florian Lipowitz und Allrounder Nico Denz. Bei Quereinsteiger Lipowitz war die Verbindung zum Team bereits vorhanden und der Transfer erwartet worden. Mit Bob Jungels holt man einen erfahrenen Mann, der vor allem bei den Grand Tours helfen kann, die gesteckten Ziele auch in Zukunft zu erreichen. Dazu Tretmaschine Nico Denz, der überall einsetzbar ist und zudem als Teamplayer und Motivator in seinen bisherigen Mannschaften stets auch außerhalb des Rennens eine wichtige Rolle einnahm.
Neben den aktuellen Kapitänen sind auch einige der jungen Talente auf dem Sprung nach oben. Giovanni Aleotti und Jodi Meeus beispielsweise. Supertalent Cian Uijtdebroeks braucht vielleicht noch ein wenig Zeit, sich zu entwickeln. Bora-hansgrohe ist für das kommende Jahr gut aufgestellt, muss sich aber Gedanken machen, wie man die Kapitäne optimal verteilt. Die Giro-Strecke könnte vielleicht Aleksandr Vlasov liegen, die Tour vielleicht eher Jai Hindley – doch man wird sich etwas Zeit lassen, den Plan für das kommende Jahr zu machen. Für die Grand Tours ist man gut aufgestellt, muss sich aber um die Verteilung der potenziellen Kapitäne Gedanken machen. Verbessern will man sich im Vergleich zu dieser Saison sicher bei den Klassiker. Bleiben die Kapitäne im Frühjahr gesund, wird man auch dort eine Rolle Spielen können.