Das erste Monument des Jahres, ein Rennen mit 115 Jahren Geschichte – Mailand-Sanremo. Die „la Primavera“ ist einzigartig. Ein Rennen mit klarer Dramaturgie und einem unglaublichen Spannungsbogen. Es ist 288 Kilometer lang und bietet Jahr für Jahr eines der packendsten Finales der gesamten Saison.
Erst Langeweile über Stunden, dann wächst die Vorfreude auf das Finale Kilometer für Kilometer und schließlich endet das Rennen in einer Radsport-Explosion. Die letzten 15 Minuten von Mailand-Sanremo sind purer Genuss und kaum vorhersehbar. Mailand-Sanremo gilt als das leichteste der fünf Monumente, das zugleich aber vielleicht am schwierigsten zu gewinnen ist.
Das Finale bietet unterschiedlichen Fahrern die Chance auf den Sieg. Jede Austragung hat ihre eigene Geschichte, die meist lange in Erinnerung bleibt. Selbst in der jüngsten Vergangenheit gab es legendäre Entscheidungen. Die späte Attacke von Vincenzo Nibali am Poggio mit epischem Solo. Oder der unglaubliche Downhill-Mohoric mit versenkbarer Sattelstütze und waghalsiger Poggio-Abfahrt. Die Zabel-Siege und der zu frühe Jubel. Die Ciolek-Edition mit Eis, Schnee und Unterbrechung. Die Kwiatkowski-Millimeterentscheidung, der Degenkolb-Sieg 2015, oder auch der unglaubliche Mathieu van der Poel im vergangenen Jahr, der kurz vor dem Gipfel des Poggio den Wunderkindern davonzog.
Im vergangenen Jahr ballerten Tadej Pogacar, Wout van Aert und Filippo Ganna den Poggio mit 38,9 km/h – holten Strava-KOM. Mit mehr als 280 Kilometern in den Beinen. Van der Poel war noch ein klein wenig schneller! Beeindruckend!
Die Strecke
Das Rennen wird nicht in Mailand gestartet – so war es bereits im vergangenen Jahr. Nach 44 flachen Kilometern kommt das Feld in Casteggio wieder auf den bekannten Parcours. Über den Passo del Turchino geht es in Richtung Küste, nach Voltri. Dieser Ort ist nach 150 Kilometern erreicht und von nun an geht es entlang der malerischen Küste gen Westen.
Mit den fünf „Capi“ – den kurzen, aber steilen Anstiegen auf den letzten rund 55 Kilometern zum Ziel, beginnt das Finale des Rennens. Zunächst Capo Mele (51,6 km vor dem Ziel) und Capo Cervo (46,7 km vor dem Ziel). Dann Capo Berta (38,9 km vor dem Ziel). Vor den Anstiegen wird es im Feld extrem schnell, und alle Favoriten müssen hellwach sein. Die Kapitäne wollen möglichst weit vorn sein, damit sie bei Stürzen oder einem Riss im Feld nicht abgehängt werden.
Das große Feuerwerk gibt es meist erst am Poggio, oder wird es in diesem Jahr anders laufen?
Der vorletzte Anstieg ist die 5,6 km lange Cipressa (Steigung 4,1 %). Eine recht lange Steigung, allerdings in weiten Teilen moderat steil. Eine sehr kurze Passage hat jedoch 9% Steigung, im oberen Teil wird es dann aber wieder flacher.
Will man hier die Konkurrenz ans Limit führen und vielleicht ein paar Sprinter abhängen, muss man direkt ab dem Einstieg Tempo machen. Vom Gipfel sind es exakt 21,7 Kilometer bis zum Ziel. Traut sich ein Fahrer schon hier All In zu gehen? Oder fällt die Entscheidung erst am letzten Anstieg?
Vermutlich wird das UAE-Team hier mächtig aufs Tempo drücken und große Teile des Feldes ans Limit bringen.
Der Ort der Wahrheit – der Poggio. Die letzte Steigung, die letzte Chance zur Attacke, ehe es hinab ins Ziel geht.
3,7 Kilometer lang bei 3,7% Steigung – eigentlich nicht mehr als ein kleiner Hügel für die Profis. Doch nach rund 300 Kilometern im Sattel wird der Poggio zum Scharfrichter.
Mit vier Haarnadelkurven geht es bergan. Wer hier angreifen will, sollte vor dem Anstieg schon gut positioniert sein. Entsprechend schnell und hektisch wird es im Kampf um die Positionen vor dem Anstieg.
Die Abfahrt zum Ziel. Einige enge Kurven, bei denen Streckenkenntnis von Vorteil ist. Starke Abfahrer können eine kleine Lücke schließen, oder reißen. Die letzten 2200 Meter sind flach.
Favoriten
Es sind die Ausnahmekönner, die den Kreis der Top-Favoriten stellen. Doch bei diesem Rennen ist je nach Verlauf auch eine Überraschung möglich. Rollt es nach dem Poggio wieder zusammen, kann eine späte Attacke erfolgreich sein, oder auch das Rennen im Sprint entschieden werden. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit wird es ein einzelner Fahrer sein, oder ein kleines Grüppchen, das auf der Via Roma die Spitze bildet.
Titelverteidiger Mathieu van der Poel hat 2023 am Poggio alle abgehängt und sich mit einem starken Solo den Sieg geholt. Die beste Taktik für den Erfolg. Doch am Poggio alle anderen Mitstreiter abhängen, ist eine der schwersten Aufgaben überhaupt. Ob Mathieu van der Poel auch in diesem Jahr der Stärkste ist, bleibt abzuwarten, denn der Niederländer hat 2024 noch kein Straßenrennen bestritten.
Was gegen Van der Poel spricht, ist sein schwaches Team. Bei Mailand-Sanremo ist es enorm wichtig, bis zum Poggio so viel Kraft wie möglich zu sparen. Dafür muss man in guter Position in die Anstiege gehen und vor allem auch vor dem Poggio in eine gute Ausgangsposition gebracht werden. Bei Tempo 65 sich selbst im Wind nach vorn fahren, kostet enorm viel Energie. Bei Alpecin-Deceuninck sind aber nicht alle Fahrer in super Form. Eher im Gegenteil, denn einige hatten zuletzt mit Problemen zu kämpfen und sind wohl nicht in Top-Verfassung. So wird man abwarten müssen, ob es gelingt, Van der Poel tatsächlich so zu unterstützen, wie es nötig ist.
Bei Tadej Pogacar und seinem UAE-Team ist es ganz anders gelagert. Die Mannschaft ist bockstark und hat neben Pogacar noch weitere potenzielle Leader dabei. Ihre Taktik könnte sein, schon an der Cipressa das Tempo extrem anzuziehen, somit die endschnellen Männer im Peloton ans Limit zu führen. Für die Passage zwischen Cipressa und Poggio wären sicher noch ausreichend Helfer da, so dass man Tim Wellens und Tadej Pogacar gut in die letzte Steigung bringen könnte. Dann könnte Wellens bergauf das Tempo nach oben schrauben und die Attacke von Pogacar vorbereiten. Vermutlich würde diese bergauf eher früher kommen, denn der Kletterer Pogacar hat vielleicht nicht solch harten Punch wie Mathieu van der Poel, aber er kann gerade bergauf eine lange Attacke reiten. Idealerweise aus Sicht von UAE könnte sich Pogacar dann allein lösen und den Sieg mit einem Solo einfahren.
Die Mannschaft Lidl-Trek hat mit Mads Pedersen und Jonathan Milan zwei endschnelle Fahrer dabei. Bergauf überleben, dann am Ende die Endschnelligkeit ausspielen – so einfach der Plan klingt, so schwer ist er umzusetzen. Als Joker könnte Toms Skujins dienen, der eine herausragende Form hat und vielleicht am Poggio weit vorn bleiben könnte. Er wäre dann eine Option für eine späte Attacke, sollte es noch einmal zusammenlaufen.
Ganna, Küng, Girmay, Laporte, Trentin, Mayrhofer, Kristoff, Bittner, Strong, Zingle … für Fahrer dieser Kategorie geht es vermutlich ebenfalls darum, den Poggio so schnell hochzufahren, wie es irgend möglich ist, um die Lücke am Ende das Anstiegs zur Spitze so klein wie möglich zu halten. Die Hoffnung ist, dass man auf dem Weg zum Ziel dann noch einmal aufschließen kann, um seine Chance auf den letzten Metern zu suchen. Für alle gilt, dass es gut ist, wenn man Helfer an der Seite hat, um nicht selbst die Kräfte zu verschleudern – doch das wird wohl nur wenigen Mannschaften gelingen. Sie alle werden dann auch die Option einer Konterattacke, nach der Abfahrt auf dem Zettel haben. Gerade Fahrer wie Stefan Küng oder Matteo Trentin wären dafür prädestiniert.
Eine erneute Abfahrt-Aktion von Matej Mohoric ist natürlich nicht ausgeschlossen, doch die Konkurrenz ist nach seinem Coup vor zwei Jahren jetzt sicher besonders aufmerksam.
***** Tadej Pogacar
**** Mathieu van der Poel
*** Mads Pedersen, Christophe Laporte, Tom Pidcock, Maxim Van Gils
** Strong, Girmay, Ganna, Mohoric, Bettiol, Neilands, Philipsen
* Milan, Mayrhofer, Trentin, Kristoff, Matthews, Kwiatkowski
Start: 10 Uhr
Ziel: ~ 17 Uhr
Startliste:
Data powered by FirstCycling.com