Thesen für 2021 auf dem Prüfstand: Lag Bernd Landwehr mit seinen #Saisonthesen richtig?

These 1 | Emu verliebt sich in Italien

Der Giro d’Italia ist die schönste Rundfahrt Welt. Das wissen wir alle. Die Tour ist groß und macht die Stars, aber sie ist nervig und langweilig. Der Giro ist das Gegenteil. In Italien wird das Radrennen geliebt, nicht das Event. Die Berge sind steil, das Rennen weniger hektisch, der Espresso besser – Emanuel Buchmann wird sich Hals über Kopf verlieben.

Keine Reporterfragen zur Farbe des Kopfkissens, sondern ein Treffen der Sportler-Egos, die im Trubel der Tifosi höher als die Dolomiten-Riesen wachsen. Hart, aber herzlich, für jedes Chaos zu haben und der Rote Teppich für Kletterer wie Buchmann. Hach, Giro.

Mit jeder Bergetappe wird der „ruhige Deutsche“ den Italienern ein wenig näher ans Herz wachsen. Und mit jedem Espresso vor Etappenstart wird Rosa ein klein wenig schöner erscheinen. Steigt Emu am 30. Mai das letzte Mal von einem der Treppchen der Siegerehrung, wird er es kaum erwarten können, erneut zum Giro reisen zu dürfen. Denn Liebe beflügelt.

Überprüfung

  • Nun, so kam es nicht. Im falschen Moment am falschen Ort und das Rennen ist gelaufen. Emu erwischte es zu Beginn der 15. Etappe, auf Rang sechs in der Gesamtwertung liegend, musste er den Giro aufgeben. Ob er sich zuvor in den Giro verliebt hat? Vermutlich schon ein wenig. Er fühlte sich gut, kam immer besser ins Rollen und hätte, hätte … Kollisionskette. Schaut man auf den Parcours der Tour de France 2022 im Vergleich zum Giro-Parcours 2022, so wäre es durchaus wünschenswert, dass bei Emu der Funke zum Giro übergesprungen ist. Die Giro-Strecke 2022 dürfte ihm liegen!  

These 2 | Deceuninck-QuickStep mit Klassikerproblemen

Es ist DIE Klassiker-Equipe, DAS Pflaster-Team im Peloton – Deceuninck-QuickStep. In den vergangenen Jahrzehnten bestimmten sie diese Rennen, fuhren von Triumph zu Triumph. Bei fast der Hälfte der Pflaster-Monumente (Ronde & Roubaix) der vergangenen 20 Jahre holte man den Sieg.

Doch im aktuellen Kader ist kein Fahrer mehr, der wenigstens eines der beiden Pflaster-Monumente gewann. Boonen, Terpstra, Gilbert – alle nicht mehr im Team. Dafür sind andere Fahrer nachgerückt und Qualität ist durchaus vorhanden – Kasper Asgreen, Zdenek Stybar, Yves Lampaert, Florian Sénéchal und auch das deutsche Klassikertalent Jannik Steimle.

Dennoch, das Team wird auf „ihrem“ Terrain Probleme bekommen. Denn mit Wout van Aert und Mathieu van der Poel gehören die aktuell besten Spezialisten zur Konkurrenz. Dazu hat das Team AG2R Citroën brutal aufgerüstet und ist nun mit Greg Van Avermaet, Oli Naesen, Stan Dewulf, Bob Jungels, Michael Schär & Co eine echte Macht. Lotto-Soudal hat mit Gilbert und Degenkolb zwei Top-Fahrer, Bora-hansgrohe ist mit Sagan und Politt brutal stark, …. die Konkurrenz für das Team von Patrick Lefevere ist in diesem Jahr extrem.

Die Pflasterherrschaft von QuickStep wird 2021 beendet. Zumindest vorübergehend. Der Spannung ist die hoffentlich nicht abträglich.

Überprüfung

  • Hier lässt sich klar sagen: Diese These war falsch! Gut, bei Paris-Roubaix am Ende der Saison war QuickStep kein Faktor, aber im Frühjahr war man erneut das bestimmende Team. Die Siege von Kasper Asgreen beim E3-Prijs und der Ronde waren nicht nur tolle Erfolge, sondern auch ein Beleg für die Stärke der Mannschaft. Gerade der Erfolg beim E3-Prijs war das Ergebnis einer exzellenten Teamleistung und nicht individueller Klasse. QuickStep bleibt eben QuickStep, auch wenn die Konkurrenz brutal stark ist. Ich lag mit der These falsch und kann vor dem (Klassiker)Team von Patrick Lefevere nur einmal mehr den Hut ziehen – Respekt!

These 3 | Der neue Remco bittet zum Tanz

Über sein Talent müssen wir nicht diskutieren. Über seinen Ehrgeiz ebenfalls nicht. Doch der Remco Evenepoel, der irgendwann 2021 zurück ins Renngeschehen kommt, wird stärker sein, als dieser brutale Überflieger, den man von 2020 noch als „Eddy Evenepoel“ kennt. Denn der superjunge belgische Wunderknabe bekommt unfreiwillig eine Lektion erteilt, die das ohnehin recht gut sortierte Champion-Gemüt noch einmal klarer strukturiert.

Evenepoel erleidet in der Reha vom Beckenbruch einen Rückschlag. Muss rausnehmen, zugucken. Mit ansehen, wie die Radsportwelt Parallelen zu Tom Dumoulin zieht und jeden Tag nachfragt, ob es seiner Hüfte denn nun endlich besser gehe.

Solch Erfahrung macht etwas mit Menschen. Und Sportler sind Menschen, auch wenn sie Lycra-Superman-Kostüme tragen. Remco wird sehen, wie privilegiert seine Normalität ist. Warum man kein Kannibale sein muss, um die Gier so stark zu spüren, dass man bereit ist Grenzen zu verschieben.

Kommt Remco zurück, wird er noch stärker sein. Viel stärker. Vielleicht unerträglich stark.

 

Überprüfung

  • Remco kam zurück. Demütig. Stark. Der Giro war das erste Rennen seit dem Beckenbruch und er lag bis zur 16. Etappe in den Top10. Er stieg dann aus, es war doch noch zu viel für den 21-Jährigen. Anschließend siegte er bei der Dänemark-Rundfahrt, der Belgien Tour, bei Druivenkoers – Overijse und Brussels Cycling Classic. Holte Bronze im EM-Zeitfahren und gewann Silber beim EM-Straßenrennen, wo er sich taktisch unclever von Sonny Colbrelli abzocken ließ. Mit Bronze im WM-TT-Rennen, seinem viel diskutierten Auftritt im Straßenrennen und dem Sieg bei der Coppa Bernocchi endete seine Saison 2021 eindrucksvoll. Schnell hatte man vergessen, dass sich Remco bei Il Lombardia 2021 schwer verletzt hatte und mehr als ein halbes Jahr aus dem Rennbetrieb war. „Unerträglich“ stark ist er noch nicht, weil ihm taktisch und fahrerisch noch etwas zu den Allerbesten der Welt fehlt. Schließt er auch dort die Lücke, könnte er tatsächlich zu einem dominanten Fahrer werden. Man darf gespannt sein, welche Ziele er sich für 2022 setzt und wann er tatsächlich bei einer Grand Tour ums Podium mitfahren kann. 

 

These 4 | Ineos holt Schwung

Den Giro gewonnen, Rang zwei bei der Vuelta – doch bei der Tour nicht in den Top-10. Das Team Ineos Grenadiers hatte keine schlechte Saison, aber der Anspruch der Vorzeige-Mannschaft ist stets der Toursieg. Das Ausscheiden von Egan Bernal war nicht zu kompensieren, Froome und Thomas gar nicht im Aufgebot bei der Grand Boucle. Die Tour 2020 war trotz Etappensieg eine Niederlage. 

Die Radsportwelt meldete umgehend Vollzug, in Sachen Wachablösung – Jumbo-Visma ist die neue Top-Equipe, die Dominatoren der Tour de France. Das stachelt nicht nur an, sondern verschiebt auch die Rolle. Ineos ist nicht mehr das Team, was die Kontrolle behalten und den Rest in Schach halten muss. Sie können freier agieren, die Kräfte bündeln und Jumbo-Visma die Last des Rennens übertragen. Wenn sie wollen. Der Kader des Ineos-Team hat weiterhin brutale Qualität. Sie werden 2021 zurückschlagen und die Tour an sich reißen.

Überprüfung

  • Nein, Ineos hat die Tour nicht an sich gerissen. Das lag an einigen Faktoren – auch daran, dass Egan Bernal den Giro als sein großes Ziel auswählte und dort die Titel holte. Bei der Tour war man als Team zwar stark, in der Spitze aber nicht gut genug. Die Mannschaft kontrollierte auf mehreren Etappen das Geschehen, agierte stark, war aber mit Leader Richard Carapaz gegen Pogacar chancenlos. Co-Kapitän Geraint Thomas war früh durch einen Sturz gehandicapt, Bernal nicht dabei und Carapaz nicht stark genug. Am Ende blieb man ohne Etappensieg, holte aber immerhin Gesamtrang drei durch Carapaz. Ok, mehr nicht. Diese These erfüllte sich höchstens halb.

These 5 | MvdP & WvA – neue Definition von Radsport

Zwei absolute Ausnahmeerscheinungen. Zwei Jungs, die für sportliche Duelle stehen, wie man sie nur selten erlebt. Der lockere Mathieu van der Poel, das Übertalent. MTB, Cross, Straße – es ist stets ein Genuss dem Niederländer zuzuschauen. Sein Rivale ist eine nicht weniger beeindruckende Erscheinung. Wout van Aert ist eine Maschine. Er drückt die Berge unter seinen Rädern mit brachialer Power weg. Stets im Dienst seiner Mannschaft, wann immer es nötig ist. Diese beiden Kerle sind ein Geschenk für den Radsport, vor allem wegen ihrer Vielseitigkeit.

Das Fahrrad als Bewegungshilfe und Sportgerät erlebt selbst in Deutschland einen Boom. Corona hilft. Die Radwege sind voll, mit Turnschuh-Rennradlern und nagelneuen Gravelbikes mit Lenkertaschen. Dabei zieht der Fahrtwind nicht nur die Oberlippenbärte breit, sondern zaubert auch immer mehr Frauen ein Lächeln ins Gesicht.

Wer sich von den „Neu-Bekehrten“ auf die Suche macht, die Grenze des Möglichen mit diesen Geräten zu entdecken, wird bei Wout van Aert und Mathieu van der Poel landen. Dies ist eine Chance für Radsport, Sponsoren, Medien und Industrie. Denn neben Superstar Sagan ist genügend Platz für sympathische Typen, die auch außerhalb der Ultra-Radsport-Bubble Interesse wecken. Frischen Wind kann der Sport sehr gut gebrauchen – die beiden Jungs können helfen, den Radsport neu zu definieren und so noch mehr Menschen zu begeistern. Die Hoffnung bleibt, dass dieser Wunsch sich 2021 erfüllt.

Überprüfung

  • Eine solche These lässt sich nicht so leicht überprüfen – doch nicht zuletzt wegen der Tour de France ist der MvdP-Hype auch ein wenig nach Deutschland geschwappt. Bei Hobby-Cross-Events kommen die neuen Gravelnden/Crossenden an, wie beispielsweise bei den November-Events in Baden-Württemberg. Radsport wird breiter, in fast jeder größeren Stadt sah man an den Sommerabenden die Grüppchen auf den Start zur Ausfahrt warten. Alpecin und Canyon nutzen die beeindruckenden Fähigkeiten des Mathieu Van der Poel geschickt für ihre Produkte. Ich schrieb davon, dass die Über-Crosser den Radsport neu definieren könnten. Wout van Art gewann bei der Tour einen Sprint, ein Zeitfahren und eine schwere Bergetappe – auch wenn es in der These anders gemeint war, der Belgier hat zumindest den Fahrertyp Allrounder neu definiert. Sie bieten beide beste Unterhaltung und ein wenig Show – dies kann dem Radsport gut tun. In Deutschland gewinnt der Radsport an Bedeutung, hoffentlich immer mehr und noch etwas schneller. Belgien wird Deutschland dennoch nie.

 

Fazit: Bei QuickStep und den Klassikern lag ich daneben, bei Emu und dem Giro möglicherweise nicht ganz. Ineos riss die Tour nicht an sich, aber Remco lieferte ab, wenn auch (noch) nicht erdrückend. Gut, für die goldene Nostradamus-Plakette reicht das natürlich bei weitem nicht – für die 2022er Thesen ist mächtig Luft nach oben.