Eigentlich war Nico Denz für die Gruppe des Tages nicht vorgesehen. Bob Jungles und Patrick Konrad waren bei Bora-hansgrohe die Männer für die Ausreißergruppe am 13. Renntag des Giro d’Italia. Zu schwer, der letzte Berg für Nico Denz. Das dachten viele vor dem Rennen und tatsächlich war der Anstieg zu hart für den 29-Jährigen, um als einer der Favoriten auf den Tagessieg zu gelten.

Sich vorbereitet, die Etappe und das Finale ganz genau angeschaut, bei Veloviewer und Streetview, hat er dennoch. Pflichtbewusst, für den Fall der Fälle. „Nico ist ein Fahrer, der ein sehr großes Interesse am Rennen hat. Er bereitet die Etappen sehr gut vor, beschäftigt sich intensiv damit und kann das Rennen zudem gut lesen“, so DS Jens Zemke gegenüber CyclingMagazine vor dem Giro. Das halten nicht alle Profis so. Denz ist ein kluger Kopf, stets freundlich und locker. Es mag nicht auf den ersten Blick so wirken, doch er ist ausgebufft und zudem sehr ehrgeizig. „Nico ist ein Schlawiner„, sagte vor Jahren einer seiner engen Vertrauten über den damaligen Neoprofi.

Dass Denz auch diese Etappe so vorbereitete, als wäre er selbst der Mann für die Gruppe, ist kein Zufall. Dann kam die Ansage, dass Jungels keine Diamantenbeine hat & Denz bekam das Go. Ab in die Gruppe! Patrick Konrad war dabei – der bessere Bergfahrer. So war klar: Denz muss arbeiten, das Tempo in der Gruppe machen, Konrad schont sich für das Finale und ist der Mann für den Tagessieg.

Denz ist, abgesehen von ganz wenigen Tagen im Jahr, der Helfer. „Ich bin kein Wout van Aert oder Tadej Pogacar“, sagt Denz über sich selbst und gefällt sich in der Rolle „des harten Arbeiters im Hintergrund“. Das ist der Grund, warum er das Trikot von Bora-hansgrohe trägt. „Rolf hat mir gesagt, dass sie jemanden suchen, der hart treten und ne Flasche annehmen kann. Ich hab gesagt: Das kann ich“ erklärte Denz mit einem Lachen über seinen Weg zum deutschen Team. Es ist sein Job, den macht er, so gut er kann. Er ist kein Social-Media-Radprofi für Fame und Likes.


Prägender Karriereweg – als Teenager nach Frankreich

Denz weiß auch um seine Schwächen. Er braucht den Rückhalt des Teams, Vertrauen zu seinem Trainer und einen guten Aufbau im Training. Nur wenn er bei 100% ist, kann er abliefern. Läuft in der Vorbereitung etwas schief, ist er nicht in Top-Verfassung und kein Faktor im Rennen, nimmt ihn das mit. Zu Beginn seiner Profi-Karriere gab es dann Momente des Haderns. Er ist ein Typ, bei dem die Vorbereitung wirklich passen muss, nur dann kann er liefern – das war auch für ihn ein Lernprozess.

In der Vorbereitung auf den Giro lief alles glatt, das Team und sein Trainer John Wakefield zogen den Aufbau durch, auch wenn Denz so auf die geliebten Klassiker zu großen Teilen verzichten musste. Private Trainingslager, Höhe, das volle Programm. Keine Kompromisse.

Plötzlich änderte sich während dieser 13. Etappe des Giro d‘ Italia die Rolle von Denz. Nach einem Kreisverkehr teilte sich die große Gruppe – eine Handvoll Fahrer rollten weg, Denz war dabei, weil er vorn mit Tempo machte. Schnell war klar: Jetzt ist er der Mann für die Etappe!

Viele Chancen bekommt ein Fahrer wie Denz nicht, bei ganz großen Rennen auf eigene Rechnung zu fahren. Damit umzugehen ist nicht für alle Profis leicht. Denn in den Nachwuchsklassen waren sie alle Siegfahrer, sonst wären sie kaum Profi geworden. Einige, die dann später meist Helfer sind, verlieren den Killer-Instinkt, den es zum Siegen braucht. Andere verkrampfen, wenn sie plötzlich an einem von 300 Renntagen die große Chance bekommen. Es ist dann auch eine mentale Geschichte, dann wirklich alles in den Ring werfen zu können, keine Fehler zu machen.

Den Giro-Etappensieg knapp verpasst – 2018 jubelt Matej Mohoric

Bei Nico Denz ist das anders. Er gehört zum starken deutschen Jahrgang 1994 – Pascal Ackermann, Nils Politt, Max Schachmann, Phil Bauhaus, Silvio Herklotz. Siegfahrer waren im Nachwuchs meist die anderen, standen bei den Teams im Fokus. Denz entschied sich deshalb als Teenager nach dem Abi nach Frankreich zu gehen, ins Internat, ohne fortgeschrittene Französischkenntnisse. Er fuhr beim Nachwuchsteam von AG2R, meist als Helfer. Er lernte die Sprache, auch die Kultur, hat bis heute enge Freunde in Frankreich. Es gab schwere Momente, doch das Ziel war der Profi-Vertrag. Durchbeißen, und eben die wenigen Chancen nutzen, sich zu empfehlen. Das gelang, auch dank der Hilfe von Fahreragent Christian Baumer, der mit den guten Kontakten nach Frankreich den Weg für Denz ebnete. 10 Jahre ist es her, dass Denz zum Chambéry Cyclisme Formation ging, wo Pierre Latour, Nans Peters und später auch François Bidard, Benoît Cosnefroy, Victor Lafay und Giro-Etappensieger an Tag 4 Aurélien Paret-Peintre mit ihm gemeinsam fuhren.

Du hast keine Chance, nutze sie!

Nach dem Kreisverkehr und der kleinen Lücke bekam Denz nun seine Chance, auf Giro-Etappensieg zu fahren – über den Berg, „der zu schwer“ für ihn ist. Ihm verleiht es Flügel, wenn er „keine“ Chance hat, sie aber unbedingt nutzen will. Er kann sich dann quälen, über den Punkt gehen, wie man so schön sagt. Geübt ist geübt, in Frankreich hat er das auf die harte Tour gelernt.

Er zog es durch, bis zum Ende und holte sich im Sprint seinen Giro-Etappensieg. Selbstbewusst, mit einer Attacke im Finale und guten Beinen im Sprint. Überwältigt, emotional und natürlich überglücklich. Er macht selbst keine Heldengeschichte draus, erzählt nach dem Rennen im Siegerinterview wie es abgelaufen ist. Dann bekommt er sein Telefon, überall rote Bobbel an den Apps. Es steht nicht mehr still, seine Welt Kopf. „Ich konnte gar nicht alle Nachrichten beantworten“, sagt Denz. Er versuchte es dennoch. Die Oma lebt in Italien, hat ihn schon mehrfach beim Giro besucht. Vor wenigen Tagen waren Frau und Kinder zu Besuch beim Giro – hatten zuvor einen längeren Urlaub eingelegt. „Ich bin ein Familienmensch“, sagt Denz. „Mir ist es wichtig, dass trotz der vielen Tage, die ich weg bin, Zeit für uns bleibt“. Im Winter nahm er die Familie mit ins private Trainingslager nach Spanien. Er trainierte viele Stunden, hatte aber am Abend die Familie um sich. Er weiß, wer es ihm ermöglicht, seinen Traum zu leben. „Ich bin dafür unglaublich dankbar“, sagt Denz.

Familienbesuch beim Giro – Papa Nico mit den Kids

Der große, statt der kleine Traum

Eine Grand-Tour-Etappe zu gewinnen, war seit langer Zeit sein großer Traum. Schon zwei Mal war er nah dran – verpasste ihn knapp. Denz ist inzwischen 29 Jahre alt. Dass man die Chancen, die er in seiner Karriere dafür noch bekommen würde, wohl locker an einer Hand abzählen kann, war ihm vor der Saison klar. Ein anderes großes Ziel hatte Denz sich gesetzt – er wollte gern einmal die Tour de France fahren. Doch dann wurden die Strecken der Grand Tours präsentiert, Bora-hansgrohe legte den Giro als GC-Ziel vor. Für Tretmaschine Denz hieß das Giro Nummer sechs, statt Tour-de-France-Premiere. Keine Sekunde sei er enttäuscht gewesen, sondern sofort begeistert für die Aufgabe, heißt es aus dem Team. Denz ist ein Typ, der auch außerhalb des Rennens als Helfer wichtig sein kann: Positive Stimmung, locker und sich selbst nicht zu ernst nehmend. Seinen Struggle behält er lieber für sich.

Der persönliche Traum von der Tour war geplatzt. Dass er beim Giro auf einer für ihn geeigneten Etappe die Chance bekommt, auf eigene Rechnung zu fahren, verschwindend gering. Doch dann kam alles zusammen, an einem Tag, der für die gesamte Karriere steht, an dem sich alles auszahlte, was in den vergangenen 10 Jahren investiert wurde. Der ganz große Traum ging in Erfüllung, unerwartet, aber nicht unverdient.

Außerhalb der Radsport-Bubble kennt vermutlich weiterhin niemand Nico Denz. Innerhalb dieses Zirkus gibt es einige, die ihm diesen Sieg von Herzen gegönnt haben.